Heute heißt es wieder früh aufstehen. Als ich frühstücke, kommt Adrian, unser Busfahrer, herein. Warum heißen eigentlich soviele Busfahrer Adrian? Er kommt gerade vom Flughafen und weiß zu berichten, dass unser Flieger 45 Minuten Verspätung hat. Wie praktisch, dann fahren wir eben erst um Acht statt schon um Sieben. Adrians weißer Bus wartet schon vor der Tür. Unsere Zelte werde in den kleinen Kofferraum gepackt. Die Kofferraumtür geht nicht ganz zu, deshalb bindet Adrian sie einfach mit einer Kordel fest. Dann diskutiert Adrian erst einmal mit einem Hotelangestellten, welche Plane wohl für das Gepäck auf dem Dach die richtige ist. Es passiert erstmal 20 Minuten gar nichts, dann verschwindet eine der Planen, nachdem sie im Zeitlupentempo zusammengefaltet wurde. Irgendwann ist endlich alles Gepäck verstaut – was hätten wir eigentlich gemacht, wäre der Flieger pünktlich gegangen?
Ich sitze vorne zwischen Adrian und Tanala. Am Rückspiegel baumeln ein grinsender gelber Smiley und ein grünes Duftbäumchen in Blattform. Die Straße ist nur bis kurz hinter Maroantsetra asphaltiert, der Rest ist die reinste Schlaglochpiste. Und Adrian scheint eine gewisse Begabung zu haben, auch wirklich jedes kleinste Löchlein mitzunehmen. An der Abfahrt zum Flughafengebäude müssen wir kurz warten, weil ein nicht mehr funktionstüchtiges Auto gerade zur Seite geschoben wird.
Übrigens steht auf dem winzigen Flughafengebäude selbstbewusst „Aerodrome“. Das erinnert mich eher an einen Modellbauflughafen, viel größer ist es hier ja auch nicht. Als wir ankommen, ist die Halle verwaist bis auf vereinzelte Madagassen, deren drei Gepäckstücke bereits vor dem leeren Schalter mit der antiken Waage aufgereiht stehen. Wie beim letzten Mal auch dauert es eine gute Dreiviertelstunde, bis ein Kombi mit Plane angerumpelt kommt und vor dem Gebäude parkt. Die Männer ziehen Warnwesten an, und los geht es. Dimby sammelt sicherheitshalber die Reisepässe ein, um die Prozedur zu beschleunigen – und sicherzugehen, dass auch alle gemeinsam fliegen. Mit einer Twin Otter könnte es nämlich schon sehr eng werden, wenn da noch drei oder vier Leute mehr mitwollen außer unserer Gruppe.
Und dann startet der Teil, bei dem wir alle mehr als froh sind, Dimby dabei zu haben. Es wird schon vor dem Wiegen diesmal diskutiert. Über was genau, kann ich nicht verstehen. Nur: Es geht um’s Gepäck. Schließlich wollen die Flughafenangestellten je sechs Gepäckstücke zusammen wiegen, die sie eins nach dem anderen gefährlich wackelnd auf der alten Waage auftürmen. Dann bleibt das Gepäck erstmal eine halbe Stunde unberührt so liegen, und es wird fröhlich weiter diskutiert. Ich glaube inzwischen, dass es gar nicht um irgendwelche Bestimmungen geht, sondern die Madagassen nur um der Schau und des Redens willen diskutieren. Es wird mit den Händen gefuchtelt, Backen aufgeblasen und entrüstet geguckt. Irgendwann kommt raus, was genau die Probleme macht: Gewisse Gepäckstücke – und meines ist ganz sicher nicht darunter – wiegen insgesamt 50 Kilo zuviel. Ja, richtig gelesen, nicht fünf. F-ü-n-f-z-i-g. Eine Person alleine hat 17 Kilo Übergepäck. Alter Falter, wo kommt das denn alles her? Und wie ging das auf dem Hinweg in den Flieger? Dimby versucht mit Engelsgeduld zu erklären, dass wir wirklich ALLE Zelte mitnehmen müssen, und zwei nicht ausreichen. Nein, wir können auch keinen der Leute hier lassen. Nach ewigem Hin und Her zahlt Tanala 159.000 Ariary – fast 50 €- und unser Gepäck darf komplett mit. Dafür müssen vier bis sechs Madagassen hier bleiben. Aber die Flughafenangestellten haben beschlossen, dass die ja auch auf den nächsten Flug warten können.
Wer hätte es gedacht, natürlich fliegen wir wieder Twin Otter. Etwas anderes kann hier auch kaum landen. Die Anzeigetafel wird von Hand mit Kreide beschrieben. Im Zeitlupentempo. Ein Huhn verirrt sich in die kleine Halle und gackert verschreckt. Außerdem querelt irgendein Bekloppter mit einer Machete in der Hand über die Fliesen und wird schließlich unsanft rausbefördert, nachdem Tanala sich schon mit einem Wischmopp bewaffnet hatte und wir eine Viertelstunde dem skurillen Entertainment aus betrunkenem Gesang, Tanz und Gebrüll zugeschaut haben.
Irgendwann nach Elf kommt der Flieger. Die Sirene ist ausgefallen, daher fährt ein Männlein mit Warnweste mit dem Fahrrad über die Landebahn und verscheucht Zebus. Die Twin Otter landet, wendet sich zum Flughafengebäude und eine Treppe klappt aus. Genau drei Personen steigen aus. Oder vier, aber Nummer Vier entpuppt sich als Transit und steigt auch direkt wieder ein. Wow, der Flug muss sich gelohnt haben. Wir steigen mit 15 Mann in die Twin Otter dazu. Sinnvollerweise sitzt der besagte Mann vor dem Notausgang. Er ist auf einer Seite taub und auf der anderen Seite schwerhörig, was sein versehentliches Aussteigen erklärt. Nicht erklärt es, warum ausgerechnet er vor dem Notausgang sitzt. Etwas schwerfällig hebt sich die Twin Otter in die Luft. Minutenlang sind wir von Wolken wie von Zuckerwatte eingehüllt. Ob das ein Flug auf sehr geringe Sicht wird? Wird es nicht, die Wolkendecke reißt aber nur wenig auf. Der Flug wird ruckelig und laut, und irgendwann landen wir endlich in Sambava. Es ist unglaublich heiß und feucht, aber ein bisschen Wind geht. Es ist fast schon richtig angenehm.
Mosesy begrüßt uns am Fenster des kleinen Flughafengebäudes. Als die Angestellten erkennen, dass er dazu gehört, wird er hereingebeten und hilft beim Ausladen des Gepäcks. Die Taschen und Reissäcke werden zu einem weißen Bus gebracht. Ein hakennasiger Fahrer fährt den Bus. Die Windschutzscheibe hat soviele Risse, dass die Sicht ganz ohne wahrscheinlich besser wäre. Der Bus rumpelt auf der Hauptstraße von Sambava bis in den Hof des Hotel Mimi. Ich bin kaum ausgestiegen, als ich in einem kleinen Gebüsch vor einem der Bungalows ein junges Pantherchamäleon entdecke. Tanala und ich bekommen Appartment 11, das ist im ersten Stock. Ein wunderhübscher Phelsuma laticauda sitzt bei uns im Raum. Seine Farben leuchten richtig, und die Schultern tragen enorm viel „Golstaub“.
Das Mittagessen gibt es im an das Hotel angeschlossene Restaurant. Und es scheint, die Gruppe überfordert schon die nächste Bedienung. Ein kleiner, dicker Kerl ist dafür sehr geschickt und regelt letztlich alle Unzulänglichkeiten seiner Kollegin. Ich bestelle gleich mal drei Flaschen Eau vive im kleinen Laden, der direkt an das Restaurant grenzt bzw. eigentlich im gleichen Raum ist. Für den Marsch morgen kann ich die gut gebrauchen.
Am Nachmittag schlendere ich im Innenhof des Hotels, um ein wenig nach Tieren zu schauen. Vor Bungalow Nr. 1 werde ich fündig. In einem kleinen, bunten Wunderbaum im winzigen „Vorgarten“ des Bungalows sitzen etliche Baby-Pantherchamäleons. Einen Busch weiter finde ich auch die goldenen und grünen Boophis tephraeomystax, die schon letztes Jahr alle Pflanzen hier bevölkerten. Und die gelben Nacktschnecken sind auch wieder da. Es scheint sich nichts verändert zu haben. Und doch… wo sind eigentlich die adulten Furcifer pardalis? Auch nach intensiver Suche lässt sich keines auftreiben. Dafür entdecke ich in zu Blumentöpfen umgebauten Kanistern und direkt neben der Küche mindestens sechs ausgewachsene Katzen, und mindestens drei gutgenährte Kitten flitzen auch herum. Ich ahne schon, dass zwischen dem Verschwinden der Pantherchamäleons und dem Auftauchen der Katzen ein Zusammenhang bestehen könnte.
Zur allgemeinen Freude sind alle Getränke-Vorbestellungen dank Mosesy pünktlich im Hof des Hotels angekommen. Auch neue Reissäcke haben er und Dimby mittags vorsorglich organisiert, denn wie erwartet hat der ein oder andere seine Reissäcke aus Maroantsetra schon „verloren“. In Nr. 11 packe ich schließlich eine sehr schmale Auswahl Klamotten in einen Reissack, den ich mir mit Tanala teile. Die beiden anderen Reissäcke sind für die Getränke gedacht, einer sollte maximal 15 kg wiegen. Und ganz wichtig: Namen drauf schreiben. Mosesy fragt außerdem herum, ob wir kantonesischen Reis oder lieber Sandwiches für die Pause in Camp Mantella haben möchten. Habe ich das richtig gehört, Pause in Camp Eins? Ja, genau das ist der Plan: Wir starten um 5 bzw. 6 Uhr früh, um so früh wie nur möglich am Park Office zu sein. Hoffentlich diskutieren wir nicht wieder stundenlang mit den Trägern.
Getränke sind überhaupt ein großes Thema, nicht nur bei den Trägern. Es ist halb fünf, und immernoch hat es 32°C im Schatten. Cola ist im Hotel schon seit mittags aus, weswegen ich auf 300 ml-Miniflaschen pappsüße, orangefarbene Fanta umgestiegen bin. Ich gedenke dieses Jahr mit etwas Zucker vorzusorgen.
Die Krankenlage in der Gruppe ist derweil bedenklich angestiegen. Stefan und Anja bleiben wegen unserer Erzählungen von Marojejy gleich ganz in Sambava, Annika ist auch noch unentschieden, zwei andere haben Magen-Darm-Probleme und/oder Fieber. Dimby hustet noch immer. Vielleicht sollten wir ein Hospital aufmachen. Aber zumindest Dauerinhalation ist bei der hohen Luftfeuchte hier schonmal kein Problem. Ich gehe lieber etwas früher ins Bett, nicht, dass ich mich noch mit irgendwas anstecke. Diesmal will ich komplett fit nach Marojejy!
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