Nordosten 2022

Ostertrubel

Uroplatus alluaudi

In der Nacht hat es ergiebig geregnet. Das stete Rauschen war sehr einschläfernd. Auch heute komme ich etwas spät zum Frühstück. Alle anderen sitzen schon am Tisch und vertilgen in Teig frittierte Bananen, Maka soaka und Omelettes. Angeluc kommt gerade mit seinen beiden Amerikanern aus der Senke und winkt uns fröhlich zu. Sein Zwilingsbruder Angelin winkt zurück, bleibt aber bei uns sitzen. Er kann in Ruhe mit uns frühstücken, und vermutlich ist unsere Wanderung auch etwas gemütlicher als die der beiden motivierten Amerikaner. Alleine bleiben wir heute allerdings nicht. Es ist Ostermontag. Ein Tag, der auf Madagaskar traditionell zum Picknick mit der Familie genutzt wird. Besonders gern in lokalen Wäldern wie diesem hier. Der erste LKW voller Madagassen lässt nicht lange auf sich warten. Es folgen Autos um Autos und zig Motorräder. Der kleine Parkplatz füllt sich in Windeseile, Ströme von Menschen wandern auf den Picknickplatz neben dem Pinienwald. Einige pilgern zum heiligen Wasserfall. Babygeschrei vermischt sich mit lautem Gejohle, scheppernder Musik aus kleinen und großen Boxen, Klatschen und Partystimmung. Kühlboxen, Schüsseln und Plastikbehälter werden vom LKW heruntergereicht. Kinder flitzen über den Picknickbereich und spielen miteinander.

Angelin klärt auch auf, was der Campwächter da gestern des Nachts vor seiner Hütte getrieben hat. Es scheint sich um eine Art magische Konsultation gehandelt zu haben. „He’s a magic man now, didn’t you know?“, kichert Angelin. “He gets visited a lot!“ Muss wohl coronabedingt sein, da haben ja einige den Beruf gewechselt. Der Campwächter hat offenbar eine Schulung zum Aushilfsmagier gemacht.

Wir ziehen los zu einer Wanderung in Richtung des mittleren Wasserfalls. Die Schuhe werden geschnürt, mit Schwung kommt der Fotorucksack auf den Rücken. Mit beschwingtem Schritt geht es den breiten Weg entlang. Angelin schaut parallel am Wegrand, was es so zu finden gibt. Und obwohl wir uns noch auf dem breiten Hauptweg befinden und vielleicht gerade hundert Meter gelaufen sind, sind die Entdeckungen gar nicht so übel. Eine winzige, aber wunderhübsche Schlange namens Alluaudina bellyi entdeckt er am Rande eines verottenden Baumstammes in einer kleinen Spalte. Eine weitere kleine Schlange, allerdings ein Jungtier, hat ein schillerndes Schuppenkleid. Wir folgen einem schmaleren Weg den Berg herunter. Es ist recht windig, einige Baumkronen der vielen Urwaldriesen knacken und ächzen. Der Wind hat aber einen entscheidenden Vorteil: Es sind kaum Stechmücken unterwegs.

Uroplatus giganteus

Irgendwo mitten im Wald verschwindet Angelin zwischen hüfthohen Farnen. Dann kommt er zurück, mit einem riesenhaften Gecko: Ein Uroplatus giganteus, der größte Blattschwanzgecko der Insel. Zum Glück erweist sich das Tier als äußerst umgänglich und freundlich. Angelin weiß außerdem noch, wo in besonders interessantes, aber sehr kleines Chamäleon zu finden ist: Calumma cf. nasutum, eine noch unbeschriebene Art. Ich genieße den Regenwald. Die Bäume tragen große, schwere Nestfarne, Lianen und andere Luftwurzeln hängen von den Bäumen, Flechten und Moos überwuchern Wege, Baumstämme und Unterholz. Hier und da ist der Boden etwas schlammig, der Regen der Nacht hat aber die Frösche aktiver gemacht. Am Bauchlauf neben dem Weg quakt und trillert es. Hier und da flattert ein Schmetterling vorbei. Schließlich entdeckt Angelin sogar noch einen Uroplatus finiavana, einen tagsüber hervorragend getarnten und nebenbei überaus fotogenen Blattschwanzgecko.

Der Rückweg geht etwas mehr bergauf, aber wer so viel die Nase in Büsche und Bäume hält, der kommt sowieso nicht sonderlich schnell voran. Als wir auf den Campground zurückkehren, gibt es ein spätes Mittagessen mit Brochettes und Röstis. Danach gibt es eine weitere Fotorunde rund um den Campground. Die zahlreichen Calumma linotum dieses Jahres bieten Gelegenheit, zu beobachten, welche Farben Weibchen und Männchen bei einem Aufeinandertreffen zeigen. Die Männchen sind gar nicht so hässlich, wie man es vor allem nachts meinen könnte. Sie sind eigentlich hellgrün bis gelblich mit einem breiten, leicht marmorierten Seitenstreifen. Die Arme und Beine sind leuchtend grün – und natürlich leuchtet die Nase in einem intensiven Blau.

Und auch die Weibchen von Calumma linotum können mehr Farbe, als der erste Blick es erahnen lässt. Kommt ein aufdringlicher Verehrer zu nahe, zeigen sie in Sekundenschnelle ein weiß-rotbraun marmoriertes Farbkleid, ebenfalls mit grünen Beinen. Neben der leuchtend blauen Nase tragen die Weibchen auch blaue Muster auf dem Helm. Sie stellen außerdem gerne ihre Occipitallappen auf, um sich größer zu machen. Ich bin erstaunt, als ich entdecke, dass die Rückseiten der Occipitallappen bei einem besonders schlecht gelaunten Weibchen rot sind – ist das etwa eine Art obskurer Warnfarbe? Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die „Farbe“ jedoch als eine Ansammlung knallroter, Blut saugender Milben, die bekanntermaßen gerne in engen Hautfalten sitzen.

Das leuchtende Calumma amber-Männchen

Heute scheint Tag der balzenden Chamäleons zu sein. Calumma amber, fast ebenso zahlreich im Montagne d’Ambre wie die viel kleineren Calumma linotum, kenne ich eher einfach gefärbt: Die Männchen sind grau bis bräunlich, die Jungtiere knallgrün, die Weibchen grün marmoriert. Tatsächlich feuert ein balzendes Calumma amber Männchen einen ganzen Regenbogen an Farben ab, als es ein Weibchen entdeckt. Hektisch nickend läuft er auf die kleine, grüne Chamäleondame zu. Dabei färbt er sich blitzschnell von langweiligem Graubraun zu braun-orangenen, breiten Streifen, die sich mit einem hellen Blau am Körper abwechseln. Die Occipitallappen und die Augenlider leuchten geradezu in Orangetönen. Entfernt sich das Weibchen, weil es zu Ende der Regenzeit kein Interesse mehr an einer Paarung hat, verliert das Männchen die Farben sofort wieder. Das Schauspiel geht einige Minuten, bevor das Weibchen endgültig die Nase voll hat und den aufdringlichen Calumma amber-Mann vertreibt.

Am späten Nachmittag ziehen die Picknick-Horden langsam ab. Ein Auto nach dem anderen verlässt den Parkplatz, ein kleiner LKW mit freier Ladefläche lädt, einem Taxibrousse ähnlich, über zwanzig Leute auf. Wie der oder die vielen kleinen Roller den nicht gerade gut befahrbaren Weg bis hierher geschafft haben, ist mir schleierhaft. Die Roller werden meist von ganzen Familien besetzt, keiner fährt mit nur einer Person. Die Toiletten haben den Ansturm Dutzender Menschen nur mäßig gut vertragen. Aber der Campwächter ist bereits am Wischen – oder vielmehr am Spülen, denn er nutzt einfach eimerweise Wasser, dass er auf die Fliesen der Toilette schüttet. Kaum sind die österlichen Picknick-Familien verschwunden, setzt der Wind aus. Dafür setzen die Stechmücken wieder ein.

 

Wir verabschieden Angelin und bedanken uns herzlich für die Hilfe beim Tiere suchen und finden. Als die Sonne untergeht, finde ich mich mit den anderen auf den Bänken in der Mitte des Campgrounds zusammen. Die übrigen THB-Flaschen wollen geleert werden, schließlich werden wir morgen nach Diego Suarez fahren. Der Wasserhahn, den ich heute Morgen noch mühevoll vorsichtig verschließen konnte,  läuft inzwischen ununterbrochen. Außerdem hat er einen zweiten und dritten Wasserstrahl dazu gewonnen. Wir haben jetzt quasi einen Springbrunnen statt eines Wasserhahns – reicht zum Geschirr spülen und Zähne putzen aber auch.

Mika, Mamy und Nany sitzen an den Bänken unter dem Küchendach. Sie spielen schon seit dem Morgen Karten und trinken Rum dazu. Im Dunkeln kommt Gesang dazu. Der wird später durch Musik aus der Box ersetzt. Schließlich wechseln wir von den Bänken hinüber zur Essenshütte. Der ein oder andere ist dem Knoblauch in der Küche so zugetan, dass er sich pure Knobischeiben aufs frisch gebackene Brot legt. Jemand anders, im realen Leben angesehener Wissenschaftler, erzählt derweil von seiner Jugendkarriere als Bombenleger. Und wie einmal eine Kaffeemühle einfach explodiert ist. Anekdoten und Geschichten werden ausgetauscht.

Schließlich ist es spät genug, um den letzten Klogang des Tages anzutreten. Das bringt jedoch unschöne Überraschungen. Eine Nephilingis livida hat sich vor den Toiletten häuslich eingerichtet. Das ist jetzt sehr ungünstig. Die riesige Spinne hat ihr Netz keinen Meter vor den beiden Türen der Toilette gebaut. Die beiden oberen Haltefäden des Netztes liegen jeweils ziemlich mittig vor den beiden Türen, der untere endet genau in der Mitte davor. Dazwischen hängt das riesige Netz, das man nur in einem bestimmten Winkel von der Kopflampe angestrahlt vollständig sieht. Ich bin schon froh, dass ich nicht frontal hineingelaufen bin. Ich schiebe mich seitlich am Netz vorbei, ohne es zu berühren. Die Tür kann ich leider nicht mehr schließen, aber das bietet sich hier eh nicht so an.


Immerhin hat die Toilette so eine sehr hübsche Aussicht. Man kann neben einem Abflussrohr ein schlafendes Calumma linotum im Schein der Kopflampe sehen. Und unten am Wegrand sitzt das Baby-Calumma-linotum, das dort auch die letzten beiden Tage nachts geschlafen hat. Alles wie immer also.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.