Nordosten 2022

Die letzten Kabarys

Vom Klappern von Geschirr werde ich wach. Schon zwanzig Minuten vor Sechs wandere ich im Halbdunkel quer über den Campground und den Parkplatz auf die Toilette. In kurzer Hose, Schlafshirt und Flip-Flops, was die Stechmücken freut. Die Sonne geht gerade auf, es dämmert. Die Nephilingis von gestern hat sich dankenswerterweise unter das Dach des Klohäuschens verzogen, da stört sie niemanden. Der kleine Nektarjala unten am Wegesrand sitzt wieder  genau da, wo er auch vor zwei Tagen nachts geschlafen hatte. Er wird erst losfliegen, wenn es hell ist.

Lars und Jutta stehen mitten auf dem Campground – mit einem mobilen, faltbaren Waschbecken. Ich finde ja, dass Duschen im Regenwald eher überbewertet wird. Der Wasserhahn hat inzwischen nur noch einen einzigen Strahl. Ich flitze zurück ins Zelt, um mich anzuziehen. Die madagassischen Jungs haben sich im Laufe der Reise übrigens hervorragend an unsere außergewöhnliche Reisegruppe angepasst. Immerhin ist es die erste Reisegruppe, bei der jeder – ohne Ausnahme – pünktlich zu allem erscheint. Eher zu früh. So war das Frühstück heute für sieben Uhr angesetzt, um halb sieben haben aber alle schon ihr Gepäck vor den Zelten und die Zelte geräumt. Also gibt es auch früher Frühstück, das letzte im Regenwald. Geröstetes Brot, Bananen, geviertelte Orangen, Omelettes und Maka Soaka wandern auf den Tisch.

Es dauert, bis die Sonne über den hohen Bäumen erscheint und die Zelte langsam trocknet. Die Jungs rödeln die Küche zusammen, was gefühlt kein Ende nehmen will. Ich beobachte einige Phelsuma dorsivittata in den Drachenbäumen. Ich frage Dimby, ob wir in Joffreville kurz halten und Honig kaufen könnten. „Das geht schneller“, entgegnet er. Dimby verschwindet kurz, wühlt in einigen Kartons in der Küche und drückt mir schließlich lächelnd eine 0,5 l Flasche Eau Vive in die Hand. Voll bis oben hin mit Honig. Aus Joffreville. Mmmmh.

Gegen halb Zehn sind alle Landcruiser gepackt und alle Zeltplätze geräumt. Die Geländewägen setzen sich nacheinander in Bewegung. Der Weg ist rutschig, aber bergab besser befahrbar als andersherum. Ein paar einzelne Menschen kommen uns entgegen.  Dann verlassen wir den Regenwald. Über den schmalen Pfad am Park Office vorbei geht es über eine Buckelpiste hinunter nach Joffreville. Und hier ist unglaublich viel los. Unmengen von Menschen sind auf der Straße, die ins Dorf führt. Unzählige Säcke Kat wandern den Berg herunter, die meisten zu Fuß.  Im Dorf begegnen uns gleich zwei LKWs, deren Ladefläche mit Menschen  – und Kat – überfüllt sind, es stehen sogar noch Leute auf der hinteren Stoßstange.

Bei Jackie Chan geben wir Kisten und Glasflaschen zurück, diesmal ist er selbst da. Mika parkt gegenüber dem ehemaligen Restaurant von Florent. Florent ist auch da, aber irgendetwas stimmt nicht. Tanala winkt ihm, aber er reagiert nicht. Mika ruft. Das hört Florent. Er kommt, sehr zögerlich, herüber. Sein Blick wirkt starr, seine Miene ist niedergeschlagen. Dann erfahren wir auch, was nicht in Ordnung ist: Florent hat eine Netzhautablösung. Er ist auf einem Auge fast blind, auf dem anderen sieht er nur noch sehr eingeschränkt. Als er Tanala zur Begrüßung umarmen will, ist er sich erst nicht sicher, ob es wirklich Tanala ist. Wie es auf Madagaskar so ist, fragt er jedoch nicht nach Geld. Er berichtet einfach nur von den Problemen, die mit Blindheit auf Madagaskar einhergehen: Florent kann seiner Arbeit als local guide nicht mehr nachgehen. Begonnen hat die Erkrankung wohl vor Kurzem, als er gerade mit einigen Wissenschaftlern auf Käfersuche unterwegs war. Leider schreitet Netzhautablösung schnell fort. Mit dem Geld, was er noch auf der hohen Kante hatte, konnte Florent sich einen Besuch beim Spezialisten in Tana organisieren. Eine Operation ist möglich, aber die wiederum kann sich Florent nicht mehr leisten. 500 € etwa soll das Ganze kosten. Das Treffen ist ernüchternd. Florent wünscht alles Gute, wir ihm auch. „We’ll see how we can support you,“ murmele ich noch. Mika lässt sich Florents aktuelle Handynummer geben, um ihn gegebenenfalls erreichen zu können.           

Irgendwo südlich von Joffreville halten die Landcruiser nochmal an. Ich folge José in einen breiten Weg unter Mangobäumen bis zu einem kleinen Waldstück, das eher zerstört erscheint. Es ist der Rand des Forêt d’Ambre, einem eigentlich geschützten Wald. Nur ist vom Schutz nicht allzu viel zu sehen. Frank weiß, dass es hier sehr kleine Erdchamäleons gibt: Brookesia desperata. Er war selbst an der Beschreibung vor zehn Jahren beteiligt. Ich habe die Art noch nie gesehen. Und da ich mit der besten Reisegruppe der Welt unterwegs bin, ist auch für Sonderwünsche Zeit. Im Laub wird eine ganze Weile gewühlt, bemooste Rinde wird extrem genau begutachtet. Wie bei allen Erdchamäleons scheint es, dass man nur den exakten Fundort wissen muss, um die Tiere zu entdecken. Ich habe Glück. Mehrere Brookesia desperata kommen zum Vorschein – wunderschöne, kleine Chamäleons, die sich optisch deutlich von den Erdchamäleons im Montagne d’Ambre unterscheiden. Sie wurden übrigens desperata – verzweifelt – genannt, weil der Wald schon vor zehn Jahre massiv von Abholzung bedroht war. Das hat sich nicht geändert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer für die Art ist jedoch, dass sie sich offenbar auch unter Mangobäumen wohl fühlen.

Die Reise geht weiter. Die Piste in Richtung Diego Suarez ist wahnsinnig staubig. Zwischendurch bietet sich immer mal wieder ein Blick aufs Meer. Jede Minute, die wir weiter nach unten fahren, wird es wärmer. Schon läuft wieder Schweiß und es sind schnell über 30°C. Bald erreichen wir Antsiranana – das ist der madagassische, weniger genutzte Name für Diego Suarez. Die Straße wechselt zu einer perfekt asphaltierten Strecke mit säuberlich aufgereihten Randsteinen. Sogar blau-weiße, frisch getünchte Ortsschilder gibt es. Am Flughafen von Diego vorbei geht es in die Stadt hinein. Tuk-Tuks trödeln vor sich hin. Eine ganze Reihe LKWs parkt am Straßenrand. Bevor wir die Innenstadt erreichen, biegen wir schon ab in Richtung Strand. Entlang der wunderschönen Bucht mit dem Zuckerhut düsen wir bis nach Ramena.  

Im Ort biegen wir links an und folgen dem schmalen Weg zur Casa en Falafy. Wir setzen uns erstmal an den Pool und bestellen eine Runde THB. Auf Bungalow 1, denn unseres ist ja das an der Ecke vorne. Später stellt sich heraus, dass das Bungalow 4 ist. Die THB gehen also auf Chrissi, die im realen Bungalow 1 wohnt. Ich bestelle, das ist fast ein bisschen Tradition hier, eine Pizza. Die Dusche danach ist ein Traum nach vielen Tagen Regenwald. Und der Pool im Anschluss auch. Die Pizza gibt es dann im Restaurant statt am Pool. Florent geht mir allerdings nicht aus dem Kopf. Ob Crowdfunding vielleicht eine Möglichkeit wäre…? Leider lässt das hiesige Wlan wenig Recherche zu, und gemacht hat das sonst noch nie jemand aus unserer Runde.             

Zurück am Pool – die Umgebung mit den Sitzgruppen ist immer noch mit Kunstrasen ausgelegt – haben sich drei Madagassinnen eingefunden. Sie haben ein kleines Mädchen dabei, das gerade so laufen kann uns sich über ein paar Luftballons sehr freut. Markus und Tanala lassen sich ölen und massieren. Danach bieten die Damen Tücher zum Kauf, über den Preis wird man sich allerdings nicht einig. Ich plantsche im Pool und beobachte das Geschehen aus dem Wasser. Als ich mein Handtuch holen will, stoße ich mir den Kopf an einem herausstehenden Holzpfosten unter einem der Palmblattdächer. Ich bin nicht die einzige, den Holzpfosten bekommen heute noch einige Schädel zu spüren. Ein sehr junger und kleiner Phelsuma grandis flitzt keinen Meter weiter einen Baum nach oben.

Nach dem Abendessen – das nur wenige Stunden nach dem sehr späten Mittagessen kaum zu schaffen ist – geht es zurück an den Pool. Aus dem Restaurant dudelt Musik, die Stimmung ist sehr ruhig. Die Jungs liegen und sitzen zwischen Holzstühlen, Sonnenliegen und Kunstrasen auf dem Boden. Zeit für Kabary. In der letzten Stunde wurden in verschiedene Umschläge Trinkgelder gesammelt: Einer für José, einer für Dimby, einer für Fitah, einer für die Fahrer Mamy, Nany, Gris und Mika, einer für die Köche Andry und Christian. Jeder gibt, so viel er mag. In Euro und Ariary. Es werden recht gut gefüllte, dicke Umschläge.

Markus hat die Ehre, die Umschläge zu überreichen und sich für die gemeinsame schöne Reise zu bedanken. Dimby setzt danach im Gegenzug zu einer weiteren kleinen Kabary an. Er bedankt sich im Namen aller für die schöne gemeinsame Zeit, die vielen guten Erlebnisse. Und dafür, dass doch alle wieder zurück auf die Insel gefunden haben, trotz Corona und als erste Reisegruppe danach. Es war eine sehr gute Motivation zum Weitermachen und das erste ganz reale Zeichen, dass es jetzt wirklich wieder los geht mit den Reisen. Gris bedankt sich nach Dimby als Ältester in der Runde noch einmal extra, natürlich im Namen aller. In einer kleinen Tombola werden Häufchen von Schlafsäcken, Sonnenbrillen, Akkus,  Powerbanks und andere nützliche Sachen, die auf Madagaskar bleiben sollen, unter den Jungs verlost. Franks Cowboy-Hut, der auf dieser Reise irgendwie gar nicht so oft zum Einsatz kam wie noch 2020, geht an Mika. Ein bisschen traurig verabschieden wir uns voneinander. Wir sehen uns zwar alle morgen früh nochmal, aber das hier ist der eigentliche Abschied.

Danach packe ich meinen Koffer, der mit 22,9 kg schon wieder zu schwer für den Inlandsflug ist. Das „Handgepäck“ hat auch nur 15 kg bei erlaubten 5 kg. Und die Vanille muss auch noch dazu! Um den Tag abzuschließen, husche ich nochmal unter die Dusche, dann geht es früh ins Bett. Morgen ist unsere fantastische Reise schon fast zu Ende. Aus der Nachbardisko dröhnt laute, unrhythmische Musik herüber. Hunde heulen dazu.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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