Nordosten 2015

Maularschlochfliegen

Stenophis betsileanus
Parastenophis betsileanus

Heute kann ich ausschlafen, bis kurz vor Acht kuschele ich mich in die Decken. Sobald morgens etwas Wind aufkommt, verschwinden die lästigen Stechmücken. Ich habe vom barfuß laufen gestern Unmengen übler Stiche abbekommen, und sie jucken wie die Hölle. Deshalb genieße ich jetzt kurz das mückenlose Ausruhen. Die Jungs haben jedoch ein so gutes Frühstück vorbereitet, dass der Duft frischer Rühreier und selbst gebackenem Brotes mich schließlich aus dem Zelt zieht. Mit Blick in den Regenwald frühstücke ich vor mich hin – alle anderen sind längst fertig. Zwei Mungos haben die Hühnerreste in unserem Mülleimer entdeckt und streiten sich eifrig darum, wer welchen Teil eines Hühnerfußes bekommt.

Der Vormittag steht wieder im Zeichen der Fotografie. Mosesy hat eine Parastenophis betsileanus gefunden, eine braun-weiß gestreifte Trugnatter. Die schmale Schlange ist enorm schnell und windet sich Äste hoch und wieder herunter. Es erweist sich als extrem schwierig, ein gutes Foto des Tierchens zu bekommen. Martin wird bei einem Selfie mit der Streifenschlange „fast gefressen“ – naja, vielleicht nicht ganz.

Die Jungs haben derweil noch einen lustigen Käfer gefunden, eine winzige Baby Popa spurca (eine ast-imitierende Gottesanbeterin) und eine kleine Babymantide, die eine Ameise imitiert. Es scheint ein bisschen Tag der Insekten zu sein, denn direkt neben meinem Zelt läuft auch noch ein schwarz-rot gestreifter Tausendfüßler mit knallroten Beinen vorbei. Die Warnfarben trägt er scheinbar zu Recht – bei Berührung riecht es plötzlich scharf nach Kloreiniger. Naja, ganz ohne Reptilien geht es natürlich nicht. Am Fluss in einer Menge vertrockneter Ingwerblätter findet Réné einen Uroplatus lineatus. Das Weibchen ist wunderhübsch, und hat einen sehr langen und schlanken Körper. Die Tarnung ist wirklich beeindruckend: Sie sieht aus wie die vertrockneten Blätter ihrer Umgebung, gelb-braun gestreift. Kopfüber ist sie vom Drumherum kaum zu unterscheiden. Die kleinen Hautanhängsel über den Augen sehen aus wie Wimpern, und geben der Blattschwanzgecko-Dame ein freundliches Aussehen.

Zu meinem Erstaunen kommt Desirée mit drei Franzosen ins Camp. Sie laufen rauf zur Gemeinschaftshütte, trinken ein Wasser, und marschieren dann wieder nach unten. Allen Ernstes, die laufen an einem einzigen Tag zu Camp 2 und wieder zurück zum Park Office. Den ganzen Berg rauf und runter,  nur um ein Wasser zu trinken und keine Zeit für die Tiere zu haben? Nichts für mich. Arme Irre, die das machen.

Brookesia karchei
Ein winziges Brookesia tedi – es wird erst 2019 beschrieben werden

Danach ist noch einmal Zeit für die natürlichen Pools am Wasserfall. Meine Mückenstiche möchten gekühlt werden. Marojejy verfügt über eine besondere Art kleiner, schwarzer Fliegen. Sie sehen nicht aus wie klassische Stechmücken, sondern eher wie winzige, nur ein paar Millimeter große Bremsen. Tanala hat sie „Maularschlochfliegen“ getauft, denn wenn sie beißen, blutet es erst kurz aus einer winzigen punktförmigen Wunde, und dann fängt es höllisch an zu jucken.

Das Fotografieren und Im-Pool-Sitzen wird eigentlich nur vom Mittagessen unterbrochen. Es gibt Unmengen Reis, und ebenso solche Unmengen Gemüse. Wenn da jemand nicht satt wird, weiß ich auch nicht. Statt einem Verdauungsspaziergang gibt es nach dem Mittag ein Verdauungs-Kartenspiel mit Lore, Stefan, Gerd und Martin. Den Rest des Tages verbringe ich auf den Felsen und damit, Dimby dabei anzufeuern, wie er eine den Wasserfall heruntergefallene THB-Dose wieder einzusammeln versucht. Ich war’s übrigens nicht, Annika hat sie aus Versehen in die Tiefe geschossen. Eine große, grüne Gottesanbeterin (Madamantis ssp.) mit blauen Oberarmen landet in einem Wasserrinnsal auf den Felsen. Leider wird sie dabei nass, so dass sie  – Fliegen geht so nicht – den weiteren Weg zu Fuß bestreiten muss.

Der Himmel zieht sich langsam zu, so dass ich leider keinen so grandiosen Sonnenuntergang wie gestern beobachten kann. Nichtsdestotrotz ist es wunderschön, auf den Felsen über dem Regenwald zu sitzen. Als es dämmert, fallen die ersten Tropfen vom Himmel. Fluchtartig breche ich zur Gemeinschaftshütte auf – ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie schnell und intensiv es in Marojejy regnen kann. Zum Abendessen fängt es dann richtig an zu schütten. Ein gewaltiges Gewitter ergießt sich mit Donner, Blitzen und strömendem Regen über den Regenwald. Einerder Mungos ist derweil wieder in der Küche unterwegs. In einem unbeobachteten Moment klaut er einen ganzen Hühnerdarm aus einer blauen Wanne.

Statt Darm gibt es zum Abendessen superlecker gebratene Hühnerschenkel und –flügel mit Riesenportionen Spaghetti. Die zum Dessert gereichten Orangen haben bei mir leider eine durchschlagende Wirkung. Apropos, das Klopapier ist schon fast alle. Manche Leute haben in drei Tagen mindestens drei Rollen verbraucht. Und ich schwöre, dass ich es diesmal nicht war!

Relativ früh verabschieden sich die meisten ins Bett. Es ist unser letzter Abend in Marojejy. Morgen geht es früh los. Gerade kam mit vielen Dank mein Fieldguide zurück von seinem mehrtägigen Ausflug unter den Jungs. Für morgen sind zehn Träger organisiert, die unsere Zelte und das gesamte Gepäck den Berg hinunter befördern. Ich lasse mein nicht gebrauchtes Wasser für die Guides in der Gemeinschaftshütte, und viele tun es gleich, so dass ein ganz ansehlicher Vorrat entsteht. Die Guides möchten das Wasser gleich hier lassen, für den nächsten Besuch. Meine letzte Dose Bier habe ich heute Mittag auf den Felsen getrunken, 15 Dosen habe ich im Laufe der letzten Tage verschenkt. Da gerade eine Kerze auf dem Tisch steht, nehme ich gleich mal einen Teelöffel, um die elenden Mückenstiche auszubrennen. Dann hören sie auf zu jucken. Leider kann ich die Hitze des Metalls schlecht einschätzen, was zur ein oder anderen Brandblase führt. Übrigens wurde der rostige Nagel zwischen den beiden Hütten abgedeckt, mit dem Boden einer abgeschnittenen Wasserflasche. Wenigstens reißt sich jetzt keiner mehr die Füße daran auf.

Gesicherter Nagel
Wie man in Marojejy einen rostigen Nagel sichert

Ich möchte mich bei Mosesy bedanken und schnappe mir meinen Fieldguide. Eine kleine Widmung kommt auf die erste Seite, dann drücke ich ihm das zerfledderte, vollgepackte Buch in die Hände. „It’s for you, for being one of the best guides of Marojejy!” Mosesy weiß zuerst gar nicht, was er sagen soll. Er kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr er sich freut. „This is such a beautiful present“, murmelt er leise, und dass es neben der Kopflampe jetzt zu seinen wertvollsten Besitztümern gehört. Selten habe ich erlebt, dass ein simples Buch mit einer Unmenge eingeklebtem Papier, handschriftlichen Notizen und herausfallenden Seiten solche Freude bereiten kann. Ich glaube, hier ist der Fieldguide bestens aufgehoben – und ich kann mir ja gelegentlich einen neuen basteln.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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