Ich bin heute quasi ausgeschlafen, will heißen, ich war wach, bevor der Wecker geklingelt hat. Nach dem obligatorischen Zebu-Sandwich zum Frühstück sammelt die Gruppe sich am Bus. Diesmal bleiben wir mit Christian und Rapha sitzen, als wir zwei unserer drei Mini-Gruppen in V.O.I.M.M.A. aussetzen. Christian fährt den Bus weiter auf der Straße bis zum Office von Analamazaotra, allerdings nur für die Tickets. Der letzte Zyklon hat die Brücke hinter dem Office mit sich gerissen, und daher gibt es einen provisorischen Eingang weiter vorne an der Straße. Lehmspuren auf der Straße sind immernoch zu sehen, denn der Zyklon hatte auch eine gewaltige Überschwemmung verursacht.
Während wir unter einem breiten Baum mit niedriger Krone auf Julienne warten, entdeckt Christian – wer sonst – schon ein Calumma brevicorne-Männchen im Baum. Vorsichtig sammele ich es vom Baum, um ein paar Fotos zu machen. Das ist hier nicht so gern gesehen, denn eigentlich darf man als Tourist in von MNP (Madagascar National Parks) geführten Nationalparks gar nichts anfassen. Keine Tiere, keine Pflanzen, nix. Nur ist der Baum ja quasi an der Straße, also auf ganz öffentlichem Gelände, und so treffen uns nur einige grumpelige Blicke. Zwei Engländerinnen, eine ältere Frau mit ihrer Tochter, entdecken uns und freuen sich einen Ast, dass sie mal so nah an ein Chamäleon kommen. „Such fascinating animals! I’ve never been so close to a chameleon…Are you working here?“, fragt eine, und ich verneine grinsend. Ich wiege und messe die Tierchen ohne Auftrag, gewissermaßen. Um Aufruhr zu vermeiden, setzte ich das Männchen schnell wieder auf den Ast, von dem ich ihn gepflückt habe, zurück. Derweil ist auch Julienne fertig und kommt samt Tickets wieder vom Office zurück.
Der Bus fährt uns ein paar Hundert Meter zurück, bis zum provisorischen Eingang. Der Straßengraben ist mit zwei Brettern überdeckt, dahinter liegt ein Zaun mit einer schief in den Angeln hängenden Tür, und sogar eine kleine Hütte wurde für den Zweck zusammengezimmert. Ein Mann kontrolliert sogar die Tickets im Vorbeigehen. Rapha und Christian lassen den Bus stehen und kommen hinterher, ich zahle ihnen den Eintritt von je glorreichen 2000 Ariary (Madagassen sind preislich ziemlich im Vorteil, was Eintrittspreise angeht). Wir folgen einem plattgetrampelten Pfad am Fluss entlang, bis wir zwischen die Bäume abbiegen. Man sieht hier deutlich, dass der Zyklon erst kürzlich gewütet und es seitdem wenig geregnet hat. Die Bäume sind über zweieinhalb Meter Höhe mit rotem Schlamm verschmiert, der längst auf Blättern und Ästen zu einer rotgelben Kruste getrocknet ist. Ein komisches Gefühl, da zu stehen, wo vor ein paar Tagen noch das Wasser stand. Weit über meinem Kopf.
Wir folgen einem schmalen Trampelfpad zwischen den Bäumen durch zu einer riesigen Menschenmenge, die unter den Bäumen steht und nach oben starrt. Eine Gruppe Diademsifakas sitzt in den Baumkronen. Außer uns sind es zwei Gruppen, und wir sind ganz klar und mit sehr viel Abstand die kleinste. Die eine Gruppe ist eine Schulklasse von 30-40 Jugendlichen, die andere leider eine 25 Mann starke Gruppe von Franzosen. Und während die Schulklasse leise und andächtig nach oben schaut, lärmen die Franzosen lautstark vor sich hin. Auch als die Guides mehrmals darauf hinweisen, bitte leise zu sein und die Tiere nicht zu verscheuchen, verstummt das Gerede und Gejohle nicht. Schließlich klatschen drei besonders intelligente Franzosen sogar in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Diademsifakas zu erregen. Oh Wunder, das klappt eher bescheiden. Die Tiere ziehen sich weiter in die Baumkronen zurück. Nieselregen setzt ein, und wir verlassen diese Massenbewegung an Menschen lieber wieder.
Wir laufen den Hügel nach oben, entdecken unterwegs eine riesige Schnecke und schlagen uns irgendwo zwischen einem Urwaldriesen, von dem unzählige Lianen hängen, und ein paar kleineren Nachwuchsbäumchen ins Gebüsch.
Querfeldein führt Julienne uns einer Gruppe Indris hinterher. Auch wenn ich versuche, so wenig Pflanzen wie möglich dabei zu zerteten, stolpere ich eher hinter ihm her. Spinnweben bekomme ich dabei aus irgendeinem Grund immer ins Gesicht, egal hinter wem ich laufe. Schließlich erreichen wir im Gänsemarsch einen Hang, an dessen Fuß gerade diverse Franzosen flüchten. Mit einem riesigen Sprung fliegt ein schwarz-weißer Schatten über meinen Kopf hinweg, und landet einige Meter vor mir an einem Baum. Er nascht an kleinen, grünen Blättern, entscheidet sich dann aber anders und springt in die Baumkrone, um dort nach Früchten zu schauen. Auch heute singen die Indris für uns – naja, vielleicht eher für eine Indrigruppe aus dem benachbarten Community Park, aber das macht ja nichts. Lautstark brüllend sitzen sie in den Bäumen, holen zwischendurch immer wieder tief Luft und setzen zu neuen, gellendem Singsang an. Dafür kann ich mich jedes Mal wieder begeistern.
Als wir die Indris verlassen und uns wieder den Hang nach oben arbeiten, lässt einer der Indris ein paar Töne los, die eher wie ein Hupen klingen. Verschwitzt komme ich auf dem eigentlichen Weg an. Er besteht fast nur aus Wurzeln und ich muss schauen, wo ich hintrete. Julienne verschwindet immer mal wieder, um Taggeckos und Blattschwanzgeckos zu finden. Anscheinend sind die heute aber aus. Als er gerade wieder vorläuft, setze ich mich auf einen bemoosten Baumstumpf. Markus entdeckt einen winzigen Skink, dessen Haut wie ein kleiner Regenbogen schimmert. Schon ist es vorbei mit der Pause, denn für ein Foto muss man den Winzling erstmal heil unter seinen Blättern hervor bekommen.
Diesmal sind wir als erste Gruppe zurück aus dem Wald. Ich bestelle mir ein Fresh, die Radlervariante des THB, und stoße mit Markus, Katja und Chrissi auf den gelungenen Tag an. Ines ist schon wieder unterwegs, um irgendwo zwischen den Perlhühnern irgendeinen Vogel abzulichten. Nach und nach trudeln auch die anderen beiden Kleingruppen ein, bis wir wieder 15 Mann stark sind. Chrissi traut sich an Ravitoto heran, ein madagassisches Nationalgericht. Es besteht aus geriebenen Kassavablättern und Reis, und ersteres sieht einfach aus wie ein Kuhfladen. Egal, wie liebevoll man es anrichten will. Ich finde insgeheim, dass es auch so schmeckt. Aber zum Glück sind die Geschmäcker ja verschieden.
Nach dem Mittagessen brechen wir mit Christians Bus nach Vohimana auf. Der ein oder andere bleibt zurück, es herrscht wohl gerade Magenkirmes in einigen Bungalows. Ich habe nichts abbekommen, aber ich hatte das Vergnügen ja auch schon dieses Jahr auf dem Weg von Ambalavao nach Isalo. Einmal pro Urlaub reicht. Jemand anders klagt über Migräne, die aber nach Aussicht auf sehr hübsche Chamäleons spontan ausheilt.
Der Bus gurkt gemähchlich um die vielen Kurven, durch kleine Hüttendörfer bis nach Vohimana. Der Weg zum Reservat ist versperrt, ein Erdrutsch hat die Straße komplett abgeschnitten. Régisse, unser local guide hier, wusste das aber schon und hat deshalb weiter vorne als sonst nach Tieren geschaut. Zu Fuß folgen wir ihm den Schotterweg entlang, bis er irgendwann abbiegt. Régisse ist heute Nacht mehr als fündig geworden. Er zeigt uns ein riesiges, gelbes Calumma parsonii parsonii Männchen, das Weibchen ist auch nicht weit und Calumma gallus finden sich auch nach einer ganzen Weile. Sogar ein Männchen von Furcifer bifidus mit riesigen Nasenfortsätzen findet sich ein. Nur sind es mir ein bisschen zu viele Menschen. Ich mache schließlich keine Fotos mehr, um die Chamäleons zu schonen… Das ist mir zu viel Trubel.
Später schätzen alle das Gewicht des mächtigen Parsons Männchen. Die Überlegungen reichen von 390g bis zu stattlichen 1,3 kg. In Wahrheit hat das Kerlchen „nur“ 740 g, was aber für ein Chamäleon auf Madagaskar auch schon sehr ordentlich ist. Julia lag mit 720 g am nächsten dran, das kostet wohl einen Wein.
Da eine Gruppe von rund 20 Vazaha auf Madagaskar nie lange unbeobachtet bleibt, haben sich inzwischen etliche Kinder entlang des Weges versammelt. José holt Malbücher und Stifte, und wir verteilen jede Menge Geschenke an leuchtende Kinderaugen und neugierige Mütter und Väter. José muss sogar Nachschub holen, denn es ist wie immer: Hat man einmal angefangen, Malbücher zu verteilen, tauchen plötzlich von überall her noch mehr Kinder auf. Nach unendlichen vielen Fotos blasen wir zum Rückzug. Als José zurück zum Bus kommt, laufen immernoch jede Menge Kinder rufend und lachend hinter ihm her. Vor dem Bus sitzt Rapha auf einem verwaisten Marktstand, und liest zusammen mit zwei Mädchen aus dem Malbuch. Eines der Mädchen liest langsam und stockend, aber sehr fleißig vor, und Rapha korrigiert hier und da mal ein Wort. “Die beiden lernen gerade lesen”, erklärt er mir, und führen Rapha voller Stolz vor, was sie in der Schule gelernt haben. Besonders berührt mich ein Mann mit Baby auf dem Schoß, der dem kleinen Kerl, der wahrscheinlich sowieso noch nichts versteht, vorliest und die Bilder erklärt.
Als wir wieder im Hotel ankommen, haben die Gärtner und Kofferträger vor Varinias und Gunthers Bungalow ein männliches Calumma parsonii cristifer gefunden. Es hat leuchtend orangefarbene Flecke an den Seiten, und ist überhaupt fast makellos für ein Wildtier. Natürlich gibt es dafür, dass die Männer uns darauf aufmerksam gemacht haben, auch ein gutes Trinkgeld. Man will sich seine Helfer schließlich warm halten.
Am Abend gehen wir wieder rüber zu Marie zum Essen. Mein bestelltes Crystal wächst unterwegs von einer kleinen in eine große Flasche, braucht aber immerhin eine halbe Stunde dafür. Das Essen ist gut, wenn auch nicht so perfekt wie letztes Jahr. Eigentlich bin ich schon müde, als ich auf dem letzten Stück Fleisch kaue. Trotzdem raffe ich mich kurz nach Acht nochmal auf, und gehe mit den anderen auf die Straße. Ein paar Calumma nasutum schlafen auf dünnen Ästchen. Dimby und Tanala finden einen toll gefärbten Boophis pyrrhus. Da der Farn, auf dem er sitzt, sich im Wind immer wieder bewegt, muss einer den Farn mit den Fingern halten, während Tanala fotografiert. „Don’t chicken!“, wiederholt er dabei zig Mal… zumindest klingt es so. Meine Gruppe heißt aus diesem und diversen anderen Gründen daher künftig chicken group.
Es haben kaum alle ein Foto des roten Frosches geschossen, als es schlagartig zu regnen beginnt. Ich raffe geschwind die Regenhülle über meinen Rucksack, ziehe die Kapuze meines Pullis über den Kopf und laufe zügig zurück Richtung Hotel. Zum Glück waren wir eh noch gar nicht so weit gekommen. Ein uralter, weißhaariger Franzose sitzt auf der Terrasse des Restaurants und raucht eine übel riechende Zigarre. Er trägt eine merkwürdige Lederkluft, während seine Begleiterin eindeutig zu alt für ihre langen, schwarzen Haare und die viele Schminke ist. Tanala tauft sie Old Shatterhand und Pocahontas.
Ich entschließe mich wegen des Qualms kurzfristig, statt einem THB doch lieber direkt das Bett zu nehmen. Als Tanala die Tür des Bungalow aufschließt, entdecke ich noch eine Stabschrecke, die an einem Einblatt knabbert. Ich schlafe wie ein Stein.