Nordosten 2022

Schlaglöcher und Buckelpisten

Die Nacht war etwas unruhig. Zwar saßen zwei riesige Geckos im Dach, aber selbst die konnten der Stechmückenplage nicht Herr werden. Mitten in der Nacht gab es deshalb eine kleine Eskalation der Lage, die mit sehr viel AntiBrumm und der vielen toten Stechmücken einherging. Als ich und Tanala am Morgen aufstehen, sind zumindest keine lebenden Stechmücken mehr da. Die Luft ist allerdings auch sehr DEET-schwer. Als ich mich der Toilette nähere, werde ich allerdings auf etwas anderes aufmerksam: Ein lautes, tiefes Summen wie von einem Bienenschwarm. Ich luge vorsichtig in Richtung der Toilette. Es sind keine Bienen. Hunderte Fliegen haben sich unter dem Wellblechdach versammelt. Ich entscheide mich lieber für eine Dusche.

Furcifer oustaleti-Weibchen im Gebüsch

Schon kurz nach Sieben sind alle abreisebereit. Gefrühstückt hat heute niemand, wir halten lieber unterwegs am Straßenrand. Jocelyn wird mit einer kleinen Kabary verabschiedet, dabei wird auch das Trinkgeld überreicht. Es ist das erste seit zwei Jahren und entsprechend freut Jocelyn sich darüber. Bevor er geht, zeigt er noch auf ein Furcifer oustaleti-Weibchen mit hübschen hellblauen Augenlidern, das in einem Gebüsch direkt neben den parkenden Landcruisern sitzt.

Wir sind zurück auf der Straße. Nur ein kleines Stück davon ist noch geschottert, danach endet die Straße abrupt im Nichts. Nur noch kleine, scharfkantige Reste von Asphalt wechseln sich mit Laterit- und Lehmpiste ab, die extrem staubig ist. Zeitweise sieht man nicht einmal mehr den Weg vor lauter Staub. Der Staub färbt in Sekunden meine Kameralinse rot. Die Landschaft und der viele Staub kündigen die gerade beginnende Trockenzeit an. Die Grassavannen färben sich bereits gelb – nicht viel ist geblieben vom saftigen Grün, das hier während der Regenzeit überall vorherrscht.

In einer rotstaubigen Goldgräberstadt parkt Mika am Straßenrand. Nany parkt hinter uns. Als er das Fenster hochkurbelt, dringt laute Musik aus dem Wageninneren. Die Musik ist… madagassischer Schlager, würde ich bestenfalls sagen. Nany singt offenbar beim Fahren gerne lauthals mit und lacht nur, als die anderen ihn damit aufziehen. Schlagertaxi mit Nany. Wie gut, dass in unserem Auto keiner auf solche Musik steht.

Dezente Asphaltabbruchkanten

Zu Fuß laufe ich in Flip-Flops ein Stück weiter die Straße herunter. An einem Stand vor einem Haus verkauft eine Frau auf einem ansonsten völlig leeren Tisch Mofo akondro von einem Blechteller. Für 5000 Ariary bekomme ich gleich 16 Stück, die die freundliche Frau mit mit einem Holzspieß in eine von ihrem Mann eilig aus dem Haus gebrachte Papiertüte steckt. Markus kauft in einem kleinen Geschäft Zigaretten – an der Wand steht 150 Ariary für eine einzelne Zigarette. Der Preis stimmt wohl aber nicht mehr, es sind jetzt 300 Ariary. An den brauen Metalltoren des kleinen Geschäfts hängen Plastikbeutel, in denen kleine Chipstüten zum Verkauf hängen. Der Tresen des Geschäfts besteht aus Gemüse- und Seifenkisten. Vor dem Haus liegen auf einem Holztisch in Teig frittierte Nüsse, abgepackt in kleine Tüten – madagassische NicNacs sozugaen. Lars, Frank und Tanala kaufen sich einige der winzigen Chipstüten. Dann schlendern wir zurück zu den Autos und von dort durch einen schmalen Weg von der Straße weg.

Ich laufe gut 50 Meter an Hütten und Buden vorbei, durch einen Hinterhof und bis zu einem kleinen Stand. Offenbar gibt es hier Kaffee, denn Lars und Jutta sitzen bereits in der winzigen Hütte und verzehren diverse Tassen Kaffee und kleine, runde Reiskuchen. Chrissi hat irgendwo noch Mofo baolina, sehr schwere, frittierte Teigkugeln, aufgetan. Mit den gesammeltem Essen wird es ein leckeres, einfaches Frühstück. Die Jungs essen ihre übliche Reissuppe. Über den kleinen Platz an einer anderen Hütte sitzen einige junge Männer, die uns mit Argusaugen beobachten. Gegenüber des Kaffeestandes ist ein merkwürdiges Holzdach aufgebaut, an dem ein Rankgewächs angebracht ist. Unter dem Dach hängen Plastiktüten, in die hinein Früchte wachsen – Auberginen? Zucchini? Ein paar Hunde laufen vorbei, sie sehen räudig aus.

Eine Buckelpiste jagt die nächste. Kilometerlang nur Löcher und Hubbel. Im Slalom winden die Landcruiser sich die Strecke entlang. Mal fährt Mika mit den beiden rechten Reifen im Gras, mal mit den linken durch Schotter, um mit der rechten Seite noch auf einem Rest Asphalt zu hängen. Es braucht viel Zeit, um auf der Piste so voran zu kommen. Schnell geht hier mangels einer Straße gar nichts. Ein Furcifer oustaleti läuft über die Straße – wir kommen so langsam voran, dass es im hohen Gras verschwunden ist, bevor wir auf seiner Höhe sind. Mamys Landcruiser taucht plötzlich auf einem Lateritweg links von uns auf, der da eigentlich gar nicht sein sollte. Wo keine RN6 mehr ist, baut man sich wohl hier und da „Shortcuts“ zwischen langgezogenen Kurven.

Der Himmel ist bedeckt, weißgraue Wolken hängen tief am Horizont. Wir erreichen Anivorano Nord. Unmengen Menschen sind hier unterwegs. Ein Mann im roten Maki-Shirt, der darum noch ein traditionelles grünes Gewand geschlungen trägt, hat einen riesigen Strauß Kat im Arm. Ein dick mit Staub bedeckter Peugeot mit blinden Scheiben und ohne Reifen steht am Straßenrand neben einem Stapel kaputter Autoreifen. Tuktuks drängeln sich durchs Getümmel. Auf einem provisorischen Tresen aus zusammengebundenen Brettern liegen grüne, stachelige Corossol-Früchte zum Verkauf. Daneben stehen schöne, sorgsam von Hand geflochtene, runde Körbe. Ein paar Sixpacks Hühner wackeln auf dem Boden. Daneben haben Frauen Planen ausgebreitet, auf denen sie Gemüse wie Tomaten, Gurken und Knoblauch anbieten, aber auch Schuhe.

Hinter der Stadt liegen einige weite Reisfelder. Die leuchtend grünen Süßgräser wogen im Wind wie ein Meer, es sieht schön aus. Am Rand der Reisfelder ist die Straße mehr eine Schlammsuhle, offenbar hat es in der Nacht nochmal geregnet. Kurz darauf sind wir jedoch wieder auf der Staubpiste unterwegs. Als die Bäume höher und die Landschaft wieder grüner wird, tauchen die ersten Ausläufer des Montagne de Français auf. Am Straßenrand stehen hintereinander auf schmalen Brettern Dutzende recycelter Plastikflaschen, die mit scharfem Mangosalat gefüllt sind. Zebus stehen angebunden neben leeren Charettes.

Mika bremst plötzlich scharf. Ein Pantherchamäleon zuckelt gerade direkt vor uns über die Straße. Ich steige aus, sammle es auf – es ist sehr unfreundlich – und setze es in einen Baum. Viele altersschwache, rostige, überfüllte Taxibousse sind unterwegs. Die meisten überholen wir, sobald sich die Gelegenheit bietet. In einer Kurve eine weitere scharfe Bremsung. Auf der Straße liegt etwas dickes, langes. Ich denke erst an einen kleinen Baumstamm, doch es ist eine riesige, kerzengerade ausgestreckte Madagaskarboa. Fast zeitgleich mit Mika hechte ich aus dem Auto. Die Schlange ist gar nicht tot, sie sonnt sich nur auf dem warmen Asphalt. Keine Minute zu spät hebe ich sie schnell von der Straße, da brettert ein LKW um die Kurve. Die Ladefläche ist voller junger Männer, die beim Anblick der großen Schlange kreischen und brüllen. Frank kommt angelaufen, er hätte gerne noch ein paar Fotos von der riesigen Boa. Die möchte aber gerade ins Gebüsch verschwinden. Beim Versuch, sie aufzuhalten, entleert die Boa ihre Analdrüsen auf meine Arme. Das sorgt für ein sehr naturnahes Parfum im Auto.

Schließlich erreichen wir die Abzweigung in Richtung des Montagne d’Ambre. Ein Fahrrad, beladen mit gut einem Dutzend Säcken Kohle, lehnt am Wegweiser. Der Weg nach Joffreville geht schneller als gedacht. Wir parken wie immer vor Jackie Chans Laden. Der sieht jedoch sehr geschlossen aus. Naja, es ist Karsamstag. Auf einem Balkon im ersten Stock hängt jedoch Wasche. Eine ältere Frau schaut kurz nach draußen. Gris hupt ein paar Mal. Man muss sich hier nur zu helfen wissen. Tatsächlich öffnet sich seitlich eine der großen, schmalen Türen. Jackie Chans Mutter ist da. Und sie würde uns wohl ein paar Getränke verkaufen. Diverse Kisten THB, Cola  und Wasser sowie einige Flaschen Dzama-Rum später fahren wir ein kurzes Stück weiter und parken erneut, diesmal vor einer kleinen Epicérie, die genauso geschlossen aussieht. Ein Taxibrousse wartet auf dem Platz davor auf Kundschaft. Der uralte Mercedes-Bus hat keine Stoßstangen mehr, die Reifen haben kein Profil, die Kofferraumklappe wird mit einem Stock offen gehalten. Eine einsame Frau sitzt auf einer ramponierten Sitzreihe und wartet darauf, dass weitere Leute zusteigen. In einer winzigen – wirklich winzigen – Hütte essen einige unserer Gruppe etwas Reis mit Gemüse. Da kommt Angelin zufällig vorbei. Eine herzliche Begrüßung später geht es weiter, Angelin steigt einfach mit ein.

Der Lateritweg bis zum Park Office ist in bescheidenem Zustand. Angelin steigt aus und verabschiedet sich bis morgen. Die Schranke am Park Office wird von Hand geöffnet. Endlich geht es wieder in den Montagne d’Ambre! Der Weg in den Regenwald ist rutschig, nass und uneben. Die Landcruiser rutschen hier mal weg, mal dreht da ein Reifen durch. Als wir in den Regenwald eintauchen, schrillen Zikaden. Vorbei an Urwaldriesen, Lianen voller Moosen und Flechten und Wegränder voller Farne fahren wir zum Campground. Es ist ein bisschen wie nach Hause zu kommen.

Auf dem Campground gibt es direkt eine Neuerung: Ein nagelneues Toilettenhäuschen steht direkt an der Ecke des Parkplatzes. Angeblich, erfahre ich von Dimby, ist es noch gar nicht geöffnet. Wir haben zumindest keinen Schlüssel dafür bekommen. Schlammige Fußspuren auf dem Boden beweisen aber, dass das nicht ganz stimmen kann. Es ist gerade noch hell, so sind die Zelte schnell aufgebaut. Ich trinke selig das erste THB, als ein junges Pärchen aus der Senke des Campgrounds auftaucht. Die beiden sind aus den USA und das erste Mal auf Madagaskar – gleich für mehrere Monate. Wir unterhalten uns angeregt. Sie sind mit Angeluc unterwegs. Und wollen morgen gleich mal zum Gipfel des Montagne d’Ambre! Motiviert, die beiden. Es ist kühl hier oben. Ein leichter Wind geht, es ist angenehm. Christian ist gerade eine Minute mit dem Aufbau der Küche fertig, da hält er mir seine ausgestreckte Hand entgegen. Er hat das erste Brookesia tuberculata schon gefunden. Martin bückt sich zu den Wurzeln eines Baumes, wo er ebenfalls drei der winzigen Erdchamäleons entdeckt. Lars findet ebenfalls direkt eines. 

Der Campground des Montagne d’Ambre

Leicht angetrunken schwanke ich schwungvoll im Dunkeln über den Campground, um mal grundlegend nach Chamäleons zu schauen. Das erweist sich, wie erwartet, als nicht besonders schwierig. Nach einer großen Runde habe ich vier Calumma amber und acht Calumma linotum entdeckt. Nahe dem Klo sitzt ein besonders winziges Baby-Calumma-linotum, das noch eine geknickte Nase hat und entsprechend recht frisch geschlüpft sein muss. In der Hecke zum Parkplatz hin sitzt außerdem ein hübsches Calumma amber-Weibchen mit strahlend blauen Augenlidern. So viele schöne Chamäleons machen gute Laune.

Als ich zurück komme von meiner Runde, ist das Essen noch nicht fertig. Ich setze mich in die von einer einzelnen Glühbirne beleuchtete provisorische Küche. Mika mischt gerade Rum an. José holt seine Gitarre heraus. Schnell sammeln sich alle um die kleine Küchenhütte. Es wird laut und schräg gesungen, die meisten Lieder kenne ich zumindest schon. Fitah wird mit Rum äußerst redselig und organisiert madagassische Liedtexte auf dem Handy, damit alle Vazaha auch mitsingen können. Das klappt mit zunehmendem Rum-Pegel immer besser. Habe ich zumindest das Gefühl. Andry frittiert Crevetten und Zucchinischeiben in Bierteig, danach frittiert er Kartoffelwürfel. Da sowieso alle in der singenden Küche sind und niemand am Nachbartisch zum gesitteten Abendessen sitzt, wird gleich aus der Pfanne gegessen, die einfach herumgereicht wird. Markus kriegt extra Fleisch, damit er keinen Crevetten essen muss. Und keiner es ihm weg isst. Mamy zaubert aus einer Kühlbox, von der niemand wusste, kalte THB-Dosen hervor. Sie haben einen leichten Fischgeschmack. Gris bunkert ausnahmslos alle Heringe in seinem Zelt, um zu verhindern, dass ihm jemand einen Streich spielt und sein Zelt wieder mal umdreht. Noch lange, sehr lange, sitzen wir zusammen, reden und singen. Es wird sehr spät, bis die Runde sich nach und nach auflöst. 

Erst als Tanala und ich in Richtung unseres Zeltes wandeln, fällt mir ein, dass unten auf dem Campground ja noch das Pärchen aus den USA campt. Und wollten die nicht morgen – also heute – ganz früh raus, um zum Gipfel zu wandern? Und deshalb besonders früh ins Bett…? Die haben wir ganz vergessen. Sie tun mir ein bisschen leid. Aber es hätte wohl auch niemanden gestört, hätten sie sich einfach dazu gesetzt.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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