Süden 2015

Das Königreich der Stufen

Furcifer balteatus
Furcifer balteatus

Heute heißt es früh aufstehen, denn das Frühstück ist schon für halb Sieben angesetzt worden. Wir lassen uns Baguettes mit Omelette fertig machen zum Mitnehmen, denn heute wollen wir den ganzen Tag im Regenwald verbringen. Mir ist das sehr recht, so kann man den Regenwald in vollen Zügen genießen und muss nicht fürs Essen verfrüht zurück.

Der Bus bringt uns zum Eingang des Nationalparks, was wieder einige Kilometer die sich windende Straße nach oben bedeutet. Am Parkeingang fährt der Bus auf einen großen, gepflasterten Platz. Es regnet, und alle packen schonmal die Jacken aus. Links vom Parkplatz befindet sich das Park Office. Heute geht Theo mit uns durch den Wald. Hinter einem Infoschild geht es viele Treppenstufen nach unten, über eine kleine Betonbrücke und noch ein Stück weiter, bis man den tatsächlichen Eingang des Parks erreicht. Eine große Brücke führt über den breiten Fluss von Ranomafana. Es ist ein faszinierendes Schauspiel, wie die Wassermassen sich  durch das Flussbett wälzen, an Steinen aufwirbeln und rauschend weiterfließen. Schon kurz vor der Brücke entdeckt Theo das erste Chamäleon, ein Calumma tjiasmantoi. Wasserperlen sitzen wie Schmuck auf seinem Kopf und seinem Rücken.

Hinter der Brücke geht es tief hinein in den Urwald. Farne bedecken den Wegesrand, Baumriesen stehen links und rechts des Weges. Alle paar Meter sieht man kleinblütige Orchideen, deren Blüten wie an Rispen aufgereiht nach unten hängen. Ein kleiner, weißer Pilz mit einem netzartigen Hut steht inmitten einer Menge kleiner Sträucher an der ersten Weggabelung. Ein kleines Wunder der Natur. Es geht viele Stufen nach oben, und bald weiß ich, was mit dem „Königreich der Stufen“ gemeint war. Aber es kommen noch viele mehr! Theo, unser Guide, weiß enorm viel über Frösche. Aus einem riesigen Pandanus fängt er geschickt einen kleinen, bunten Frosch. Ich stochere stattdessen in kleinen Baumstümpfen  – und prompt springt mir ein winziger Frosch entgegen, den sonst wohl kaum jemand gesehen hätte. Er ist allerdings ausgewachsen, die Art Anodonthyla moramora bleibt so winzig. Das Wetter ist uns heute nicht sehr wohlgesonnen. Es schüttet die ganze Zeit, nur ab und zu bleibt es kurz trocken. Der guten Stimmung tut das wenig Abbruch. Auf einem moosigen Baumstamm spaziert ein Brookesia superciliaris, und lässt sich vom Fotografieren nicht stören. Die Wege werden mit zunehmendem Regen immer matschiger. Der Boden ist rutschig wie Schmierseife, teils trete ich in knöcheltiefen Schlamm. Ein paar Blutegel sammel‘ ich auch ein, aber mit fünf Egeln über den ganzen Tag komme ich noch ganz gut weg.

Wir laufen bis zu einem Aussichtspunkt, an dem eine grüne Hütte als Unterstand steht. Plötzlich hört man eine Art Grunzen im Geäst und Theo meint, es seien Rotstirnmakis. Tatsächlich turnen einige der kleinen Gesellen durch die Büsche direkt vor der Aussichtsplattform. Als ich mich umdrehe, sitzt einer davon direkt vor mir. Einen Moment lang starren wir uns an – ich weiß nicht, wer überraschter ist, dann gibt der Maki eine Art Bellen von sich und springt etwas höher in den Baum. Ein Wahnsinnsmoment.

Aussicht vom View point
Aussicht vom View point (oder auch nicht)

Die Terrasse würde sicher einen guten Ausblick in den Regenwald bieten. Heute allerdings sieht man nur Nebel. Wir verspeisen unsere mitgebrachten Baguettes und ruhen uns aus. Plötzlich leises Trappeln auf den Holzbohlen der Terrasse – ein kleiner Mungo schleicht sich an, um nach Essensresten zu suchen. Er ist enorm neugierig und kommt bis auf einen Meter heran, selbst um Kekskrümel abzustauben. Als alle gestärkt sind, geht es weiter. Viele Stufen geht es nach unten und dann querfeldein weiter, als ich einen Skink entdecke. Allerdings ist er superschnell, und entwischt mir unter den Fingern. Letztlich gibt es eine kleine Schlammschlacht auf dem Boden, bis ich den Skink habe und ganz vorsichtig auf ein Stück Moos für ein Foto setze. Ich sehe aus, als wäre ich einmal der Länge nach mit Kopf voran in den Schlamm gefallen.

Was wir eigentlich hier mitten im Wald sehen wollen, sind die Edwards-Sifakas, die nur hier im Regenwald vorkommen. Wir haben Glück und können sie ganz kurz erspähen, ein paar davon sitzen gerade einen Meter entfernt. Doch der faszinierende Moment dauert nur Sekunden, dann springen die Tiere davon und sind in Windeseile außer Sichtweite. Auch ein paar goldene Bambuslemuren kann ich entdecken, aber sie sitzen unheimlich weit oben in den Bäumen. Vermutlich ist es denen auch zu nass außerhalb des schützenden Blätterdachs. Da es immer mehr regnet, treten wir den geordneten Rückzug an. Und es sind sehr, sehr viele Treppen. Noch eine Stufe, noch eine, noch eine, der Weg nach unten will nicht enden. Das dürfte wirklich der Nationalpark mit den meisten Treppen Madagaskars sein. Schließlich erreichen wir die Brücke. Ich hatte allerdings in meiner Begeisterung über den schönen Regenwald schon vergessen, dass es auf der anderen Seite der Brücke wieder viele Stufen nach oben geht.

Am Parkeingang verschwindet Theo ins Office. Ich laufe am Office entlang Richtung Toiletten, der Regen ist in ein leichtes Nieseln übergegangen. Als ich von den Toiletten zurückkomme, winkt Christian aufgeregt zu mir herüber. Ich gehe einfach mal hin – man weiß ja nie, was Christian noch so findet! Er deutet in einen kleinen Baum zwischen Toiletten und Park Office. Ich schaue zweimal hin, bis ich ein knallgrünes, junges Furcifer balteatus-Männchen entdecke. Ein wunderschönes Tier! Ein toller Fund, den ich selbst wahrscheinlich locker übersehen hätte.

Furcifer balteatus
Furcifer balteatus

Am späten Nachmittag bringt der Bus mich und die anderen zurück zum Hotel. Das Abendessen gibt es heute früher, schon um halb sechs, denn danach wollen wir zu einer Nachtwanderung aufbrechen. Ich hoffe, das Wetter trocknet ein bisschen ab. Ganz patschnass wird es mit Fotos schwierig. Im Nationalpark selbst sind Nachtwanderungen verboten, aber die Guides von Ranomafana sind findig und haben sich etwas anderes ausgedacht: Entlang der Straße kurz hinter dem Nationalpark steigen wir aus, und suchen einfach hier nach Tieren. Mit Stirnlampen bewaffnet leuchten wir in Bäume und Gebüsche, um Tiere zu erspähen.

Und wir werden mehr als fündig: Ein Paradies für Chamäleons.  Ich kann mich kaum losreißen von den bunten Farben der Calumma oshaughnessyi, den blauen Beinen der Calumma crypticum oder dem geheimnisvollen Nasentier, von dem ich nicht weiß, ob es nicht vielleicht doch Calumma fallax ist. Alle paar Meter leuchtet ein neues Tier aus dem Gebüsch hervor. Die Fülle an Arten ist einfach unglaublich, und das so nah an der Straße! Ein blau gepunktetes Calumma glawi hat es mir besonders angetan. Und Dimby findet sogar noch eine ganz besondere kleine Sensation: Ein Palleon nasus! Der Winzling mit der Stupsnase saß einfach im kniehohen Gebüsch. Noch nie habe ich so eine Fülle von Chamäleons in so kurzer Zeit gesehen. Dazwischen sitzt ein Fettschwanzmaki im Gebüsch – ich sehe nur noch das Hinterteil, weil ich gerade mit einem Chamäleon beschäftigt war. Leider geht der Nieselregen langsam in richtigen Regen über, es wird nässer und nässer. Schließlich müssen wir aufbrechen. Ich möchte eigentlich noch gar nicht weg von diesem bezaubernden Örtchen – wer weiß, was hundert Meter weiter noch wartet? Aber die Kameras werden immer feuchter, und bei einigen bilden sich schon Tröpfchen unter dem Display. Eine Kamera ist bereits hin. Na gut, das möchte ich lieber nicht riskieren.

Der Rückweg bietet noch eine andere, unangenehme Überraschung: Von den vielen Kurven wird mir furchtbar übel. Auf dem Hinweg hatte ich noch mit Theo und Diamondra im Fielguide geblättert und gefachsimpelt. Mangels Licht ist das auf dem Rückweg nicht möglich, und so kann ich mich voll und ganz auf meinen Magen konzentrieren. Das kann den Tag nach DEN vielen Tieren am Abend aber auch nicht mehr vermiesen! Selbst zurück am Hotel reißt unsere Chamäleon-Glückssträhne nicht ab: Ein knallbuntes Teppichchamäleon sitzt vor einem der Bungalows. Wenig später falle ich todmüde ins Bett. Meine Hosen sind trotz Gamaschen bis über die Knie mit Schlamm verdreckt, die Gamaschen als solches sind kaum noch zu erkennen. Ein nasser, aber sehr erfolgreicher Tag geht zu Ende.

Furcifer lateralis
Furcifer lateralis-Weibchen, der Abschluss eines schönen Tages

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

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