Am Morgen ist alles wieder gut. Ich fühle mich frisch und ausgeschlafen, und bereit zu neuen Abenteuern. Als ich den Reißverschluss des Zeltes hochziehe, schaue ich direkt auf’s Meer. Es ist diesig, nebelverhangen liegt Maroantsetra in der Ferne. Zwei, drei Fischerboote liegen im Wasser. Fischersleute werfen Netze aus. Von den Baumkronen um’s Camp erkennt man nur die Silhouetten. Ein Regenwald wie aus dem Bilderbuch.
Ich lasse es dieses Jahr langsam angehen. Nur ein kleiner Spaziergang am Morgen, der bei der schwülen Hitze schon echt anstrengend ist, dann genieße ich einfach den goldenen Strand und schaue hier und da nach Tieren. Langsam kommt die Sonne heraus und schiebt den Nebel davon. Ich folge den Rufen der Mantellen in Richtung des kleinen Wasserfalls und dusche erstmal ausgiebig. Abgesehen von den glitschigen Felsen ist so eine natürliche Dusche mitten im Regenwald wirklich ein Traum. Man muss nur Frösche mögen, denn die springen hier überall herum. Ich liebe es. Das kühle Wasser prasselt auf meinen Kopf und meine Schultern, und ich schaue direkt in die tausend Grüntöne des Regenwaldes. Vom Wasserfall aus verläuft ein schmaler Wasserlauf bis zum Meer. Eine kleine, etwas instabile Brücke führt darüber.
Die Bootsfahrer machen heute Pause. Sie spielen Domino, was auf Madagaskar ein reines Männerspiel und sehr beliebt ist. Die Dominosteine sind alt und abgenutzt. Trotzdem werden sie voller Enthusiasmus auf einem schmalen Tisch abgelegt. Dazu gibt es Rum. Je näher es auf den Mittag zu geht, desto lauter und kraftvoller werden die Dominosteine auf den Tisch geschlagen. Gewinner oder Verlierer gibt es nicht so richtig, denn die beiden spielen endlose Runden.
Tanala hat heute die Küche übernommen. Stundenlang kocht er auf den winzigen Feuerstellen in der provisorischen Küche Kokosreis, eine Spezialität des Nordens. Dazu gibt es Hühnchen in einer leckeren Sauce. Es scheint ein bisschen Probleme mit den Lebensmitteln und Getränken zu geben, obwohl wir gefühlte hundert Mal alles durchgegangen sind in Maroantsetra. Fleisch wurde heute von einem der Fischer aus Maroantsetra freundlicherweise mitgebracht. Von Getränken wusste er aber leider wohl nichts, und die gehen nun aus. Aus mir völlig unerfindlichen Gründen hat Madame Sandra unserer „Bestellungsliste“ nicht getraut und einfach komplett anders eingekauft. Oder vielmehr nicht eingekauft. Auch das ist Madagaskar. Tanala und Dimby fragen die Bootsmänner, ob sie nach Maroantsetra fahren können – natürlich gegen entsprechende Bezahlung, irgendwoher muss das Benzin ja kommen. Sie können nicht, denn es floss reichlich Rum am Vormittag. Schließlich bietet die gute Seele der Insel, Marcel, an, nach Maroantsetra zu paddeln und alles Benötigte zu holen. Und tatsächlich mach sicht der sehnige, kleine Mann tatsächlich mit einer Piroge und einem Paddel auf. Ich würde niemals ankommen, aber er ist ganz ruhig und lächelt nur, das sei gar kein Problem. Wir heben etwas von Tanalas Hühnchen für ihn auf.
Am Nachmittag taucht ein Weißkopfmaki auf dem Campground auf. Es ist ein Männchen, und er kneift ein Auge zu. Er ist erstaunlich ruhig und wenig scheu. Bis auf wenige Meter kommt er heran, und beobachtet neugierig, was die merkwürdigen Zweibeiner auf seiner Insel so treiben. Ich spiele mit Stefan, Lore und Martin Rommé, während der kleine Lemur daneben sitzt und zuschaut. Das Weißkkopfmaki-Pärchen von vorgestern ist bald auch da, bleibt aber in großem Abstand zu uns auf einer Ravenala sitzen. Augustin hat noch eine ganz Besondere Überraschung. Er hat Brookesia peyrierasi gefunden, die zur Gruppe der kleinsten Chamäleons der Welt gehören. Die putzigen Winzlinge passen locker auf eine Fingerkuppe. Beim Anfassen habe ich direkt Angst, die Kleinen zu verletzen, und setze sie nur ganz vorsichtig auf einem Blatt ab. Entgegen meiner Annahme sind sie jedoch eher robust, trotz ihres Fliegengewichts. Tapfer wackeln sie von Blatt zu Blatt, und fallen ab und zu auch einfach runter von einem Stein oder Ast. Die Klügsten oder Geschicktesten sind es halt nicht.
Als es dunkel wird, ist Marcel immernoch nicht zurück. Wir stellen eine Laterne an den Strand, damit er sicherer zurück findet. Wahrscheinlich bräuchte Marcel das gar nicht, er kennt die Insel und das Meer wie kein anderer. Aber wenn die Laterne ihm schon nicht den Weg weist, so heißt sie ihn wenigstens wieder willkommen. Tanala ist immernoch – oder schon wieder – in der Küche zugange. Für das Abendessen plant er Spieße mit Honig-Knobi-Glasur und allem anderen, was die Küche hergibt. Madame Sandra überwacht kochende Nudeln und Reis.
Nach fünf Stunden legt Marcels Piroge am Strand an. Er wird begrüßt wie ein Held – und so ein bisschen ist er das für uns ja auch. Er hat kistenweise Getränke mitgebracht. Wir tischen ihm erstmal große Portionen Reis und Fleisch auf, später kommt Rum auf den Tisch. Ein bisschen Luxus hat Marcel sich redlich verdient heute Abend. Und er hat einen gesegneten Appetit. Zum Dessert teilen wir uns Mangostan und Rambutan.
Später am Abend geht es noch einmal rund um’s Camp auf Tiersuche. Und es gibt einiges zu sehen. Sobald die Dunkelheit sich über die Insel legt, gehen die Blattschwanzgeckos auf die Jagd. In Bewegung sind sie mit einer Taschenlampe viel leichter zu finden als am Tag. Der Wald ist längst nicht ruhig, sondern von wundersamen Leben erfüllt. Hier raschelt es, da ruft eine Eule, hier springt ein Gecko, alles untermalt vom leisen Rauschen des Meeres. In einem riesenhaften Pandanus sitzt ein knallgrüner Taggecko zwischen den Blättern. Und irgendwo im Nirgendwo – meine Orientierung ist im Dunkeln nicht sonderlich gut – sitzt ein winziges Babychamäleon auf der Spitze eines Blattes. Ein weiteres hängt nur wenige Meter entfernt an einem anderen Blatt. Beide haben merkwürdige, nach vorne über die Schnauze ragende Nasen, die nur durch wenige Schuppenreihen von der Maulspalte getrennt sind. Es könnten Tiere des zukünftigen radamanus-Komplex sein. Die Gruppe verteilt sich im Dunkeln ziemlich. Die anderen haben einen Eisvogel gesehen und Fledermäuse, ich dafür wieder Unmengen Mausmakis. Dimby findet auf einem Busch in Kopfhöhe ein völlig skurilles Insekt, dessen Hintern scheinbar einen Blattschwanzgecko nachäfft. Oder wie es der Madagasse sagen würde: „Uroplatus mimicry butt“. Als nach und nach wieder alle auf der Lichtung eintrudeln, fängt es an zu nieseln.
Am späten Abend bin ich zurück an Tanalas und meinem Zelt. Die Maus, die sich durch unser Lüftungsnetz nach draußen gefressen hatte, hat inzwischen bei Stephan und Anja auch ein Loch ins Zelt gefressen. Und Tanalas Kulturbeutel angenagt. Als es in einer Plastiktüte im Zelt raschelt, finden wir den Übeltäter: Er ist klein, grau-braun und hat unschuldige, große Kulleraugen. Trotzdem muss er aus dem Zelt ausziehen. Tanala befördert das kleine Nagetier in den Wald, und packt seinen Kultubeutel besser ein.