Die Sonne geht um kurz vor Sechs auf, und kurz danach bin ich auf dem Hotelgelände unterwegs. In den grell gelbgrün leuchtenden Hecken vor den Bungalows finden sich jede Menge kleiner Frösche und ebensoviele dicke, gelbe Nacktschnecken. Alles ist noch feucht vom Tau. Frühstück gibt es in der Patisserie direkt neben dem Restaurant. Ich bestelle sehr leckere, frisch gebackene und noch warme Schokocroissants. Während ich mir das letzte gerade in den Mund schiebe, kommt Patrick durch die offenstehende Tür. Er bringt bunt bemalte, große Holzchamäleons mit, die er an einem kleinen Stand gefunden hat. Sie sind anatomisch erstaunlich korrekt und dazu noch recht naturnah bunt bemalt, wunderschöne Figuren!
Nach der ersten Stärkung des Vormittags tüten wir unser Gepäck für Marojejy in einen roten, wasserdichten Sack. Unsere Getränke für die nächsten Tage (für Tanala und mich 20 Dosen Bier, vier Flaschen Wasser und sparsame zwei Flaschen Cola) landen in leeren Reissäcken, die mit schwarzem Panzertape zugeklebt werden Nach und nach sammelt sich alles Gepäck der Gruppe vor dem lila Bus, und es kommt trotz „abgespeckten“ Klamotten einiges zusammen! Auch das Essen müssen wir von hier mitnehmen. Neben Baguettes und Basttaschen voller Tomaten und Bananen liegen auch diverse lebende Hühner, die mit schmalen Seilchen an den Füßen zusammengebunden sind. So ganz fit sehen sie nicht aus, aber der Lebendtransport ist allemal sinnvoller, als später gammeliges Fleisch zu essen.
Erst gegen halb Zehn brechen wir mit dem Bus auf, um die 70 km bis zum Park Office des Nationalparks Marojejy zurückzulegen. Wir fahren vorbei an diversen großen Vanillefabriken und durch viele kleine Hüttendörfer. Alles ist grün, Bananen und andere Palmen stehen dicht entlang der Straße (deren Zustand übrigens erstaunlich gut ist). An einem großen Gebäude mit hohem Zaun halten wir kurz an, und Mosesy holt eine Flasche Öl. Gegen die Litschis. Aha. (Anmerkung: Er meinte leeches.) Die Straße wird langsam kurviger, und vor uns liegt das Marojejy-Gebirge. Grau ragt es majestätisch in den weiß-blauen Himmel, davor breitet sich ein grünes Mosaik aus Wäldern, Reisplantagen und Gebüschen aus. Mindestens fünfmal muss der Bus bunten Furcifer pardalis-Männchen ausweichen, die geschäftig über die Straße laufen. An einem Aussichtspunkt stoppt der Bus, damit jeder ein paar Fotos machen kann. Marojejy. Da liegt es. Die Gipfel des Berges sind von Wolken verhangen. Je näher wir uns dem Nationalpark kommen, desto mulmiger wird mir. Da wollen wir hoch? Allen Ernstes? Auf den riesigen Berg?
Nach einer guten Stunde biegen wir links auf einen Parkplatz mit gemähtem Gras und netten hellen Steingebäuden ein. Es ist das Park Office, wo wir unsere Träger bekommen, Eintritt für den Park zahlen und die übrigen Guides treffen. Rund um das Haus stehen jede Menge Männer, einige barfuß, die meisten in Flip-Flops und kurzen Hosen. Ich schaue mich ein wenig im Park Office um – ein großer Name, denn innen gibt es nur ein paar Infotafeln sowie einen grünen Schreibtisch mit ebenso grünen Holzregalen dahinter, die aber größtenteils gähnend leer sind. An den Wänden hängen uralte, riesige Poster schlechter Fotografien der Tiere im Park. Zwischen den Fotografien und Postern laufen kleine grüne Taggeckos herum. Entgegen unserem eigentlichen Plan, um 12 bereits den Parkeingang erreicht zu haben, brechen wir an der Park Office erst um diese Uhrzeit auf, mitten in der größten Mittagshitze. Inzwischen haben sich alle Wolken verzogen und die Sonne brennt vom Himmel. Es hat lange gedauert, bis alle sich einigen konnten, wer für was Träger sein darf und bis alle Formalitäten erledigt waren. Mora, mora…
Wir besteigen noch einmal den Bus, der uns fast zwei Kilometer offroad durch ein kleines Dorf fährt. An einer zerstörten Betonbrücke müssen wir anhalten. Sie ist in der Mitte einfach zusammengebrochen. Der Bus schafft es nicht über die provisorisch ausgelegten Holzbohlen, uns so steigen wir aus – das Abenteuer beginnt. In dem kleinen Bach direkt neben unserem Bus baden zwei rosa Ferkel im Wasser. Sie haben Leinen um und schon nach wenigen Minuten sammelt eine junge Frau die quiekenden Schweinchen wieder ein und nimmt sie mit ins Feld. Munter wandern wir los und durchqueren das zweite Hüttendorf, winken Kindern zu und grüßen Frauen auf Reisfeldern. Letzte Woche lag ich übrigens noch krank im Bett, was jetzt zur Katastrophe wird. Ich bekomme keine Luft durch die Nase, habe dafür aber eine verschleimte Lunge und habe das Gefühl, dass keinerlei Sauerstoff bei mir ankommt. Kaum haben wir die beiden kleinen Hüttendörfer hinter uns gelassen, schlägt die Hitze brutal zu. Es geht kein Lüftchen (gar keins!), es hat weit über 30°C bei einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit und die Sonne brennt erbarmungslos auf den roten, staubigen Weg und meinen Kopf. Mal geht es einen Hügel hoch, dann wieder herunter. Nach wenigen Kilometern bin ich platt und kann nicht mehr. Ich laufe immer langsamer, bis ich irgendwann nur noch in Zeitlupe Fuß vor Fuß setze. Und obwohl das wirklich ein grotesk lächerliches Tempo ist, liegt mein Puls ständig bei locker 200 Schlägen pro Minute. Der Weg zieht sich endlos. Unsere Träger sind längst an der gesamten Gruppe vorbeigezogen und im Laufschritt verschwunden. Nur Sakilée und Dimby, die Thorstens und meinen Fotorucksack tragen, sind noch bei uns. An den Rest des Weges bis zum Parkeingang fehlen mir jegliche Erinnerungen. Nur das letzte Stück direkt vor dem Wald weiß ich noch, denn dort ist ein kurzer steiler Hang mit einem Bach, durch den man laufen muss. Im kühlen Wasser benetze ich meinen Kopf, mache das Kopftuch klatschnass und strecke die Arme bis zu den Schultern ins Nasse. Der steile Weg dahinter ist extrem Kräfte zehrend, aber wenigstens geht es nicht nur mir wirklich schlecht. Auch die anderen sind reichlich geschafft.
Endlich kommen wir zu einer Wiese direkt am Regenwald. Ein weißes Betonschild begrüßt uns am „Entrée du parc“, das Gras steht hüfthoch und ich sehe eine kleine Holzhütte. Alles dreht sich, das Dach der Hütte bewegt sich auf den Boden zu und der Stein, auf den ich mich setzen will, verschwindet einfach vor meinen Augen im Erdboden. Mein Kopf schwirrt und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich schleiche noch einige Meter um die Hütte, um nicht sofort umzufallen, dann plumpse ich völlig erschöpft auf einen Felsen im Gras. Patrick packt eine Konservendose Sardellen aus und Mosesy zaubert aus irgendeinem Reissack frische Sandwiches, aber in mich geht kein Bissen rein. Und vom Sardellengeruch wird mir übel. Gut eine Stunde, eine ganze Flasche Cola und diverse Unmengen Traubenzucker braucht es, bis ich wieder einen Hauch von einsatzfähig bin und zumindest sprechen kann, ohne dass mein Schädel zu platzen droht. Gut geht es mir trotzdem nicht. Wenn es die Hölle auf Erden gibt, dann weiß ich jetzt ganz sicher, wo sie liegt.
Thomas hat es übrigens jetzt schon geschafft, seine Hose zu zerreißen. Wie genau er an welcher Vegetation hängengeblieben ist, weiß keiner. Neben seinem Rucksack, der schon in Sambava nur noch an einem seidenen Faden hing, und den Turnschuhen, die bereits in Paris mehr Löcher als Sohle hatten, ist das jetzt Thomas’ drittes Opfer. Frank dagegen hat zwar gutes Material dabei, schwitzt dafür mehr als alle anderen zusammen und ist selbst dann nassgeschwitzt, wenn er nur auf der Bank der kleinen Hütte sitzt. Da kann ich fast mithalten!
Direkt hinter der Hütte geht es in den Wald, und eigentlich liegen nur noch wenige Kilometer vor uns. Mosesy hat für jeden, der wollte, aus Ästen feste Wanderstöcke gebastelt, die sich jetzt als äußerst nützlich erweisen. War bisher das Klima das Problem, wird es jetzt der Weg: Ein schmaler Pfad führt steil den Berg nach oben, rutschige Steine und unendlich viele Wurzeln wechseln sich ab. Immer wieder durchqueren wir kleine Bäche. Ich starre ununterbrochen auf den Boden, um nicht auf die Nase zu fallen, und quäle mich Schritt für den Schritt den langen Weg nach oben. Kaum haben wir den Wald betreten, fängt es an zu regnen. Und regnen bedeutet hier, dass das Wasser vom Himmel kommt, als würde jemand einen ganzen Kübel davon direkt über meinem Kopf ausschütten. In nicht einmal zehn Sekunden bin ich klatschnass. Meine „wasserdichten“ Schuhe halten vielleicht eine knappe halbe Stunde, dann steht auch darin das Wasser. Der Boden besteht nur noch aus Schlamm, Matsch, Steinen und Wurzelwerk. An vielen Stellen haben die Männer des Dorfes versucht, runde Steine als Weg auszulegen – leider sind sie durch die Nässe spiegelglatt. Der Regen sorgt aber auch dafür, dass die Temperaturen ein klein wenig sinken. Und so bewege ich mich wenigstens nicht mehr am Rande des Kreislaufzusammenbruchs, sondern „nur noch“ in extrem erschöpften Zustand. Alle 200 m muss ich anhalten und verschnaufen, um nicht nochmal umzufallen. Meine Beine schmerzen und mein Kopf brummt. Es geht weiter und weiter… Gegen 16 Uhr sehe ich plötzlich nach einer letzten fiesen Steigung grüne Plastikplanen rechts von mir durch die Bäume schimmern und höre Stimmen. Camp Mantella! Eine Treppe führt zum Camp nach unten. Erleichterung…
Eigentlich war der Plan, noch heute zu Camp 2 weitere zwei Kilometer nach oben zu gehen, aber das ist unmöglich. Einige sind noch gar nicht angekommen und selbst die, die da sind, müssen sich dringend erst einmal erholen. Camp Mantella ist ein sehr schöner Ort und genau richtig, um einen Tag auszuspannen. Links befindet sich eine große, offene Holzhütte mit (sehr schmalen) Bänken, Tischen und einer improvisierten Küche. Rechts führen winzige gekieste Wege zu einigen aus grünen Plastikplanen und Holz erbauten Hütten. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit ist es in den Hütten aber sehr nass, weshalb wir Zelte mitgebracht haben. Die stehen natürlich auch schon, die Jungs waren fleißig. Tanalas und mein Zelt steht direkt auf dem Weg zum Klo… nun gut.
Als es dunkel wird, taucht Mosesy plötzlich im Camp auf. Er hatte Annemarie begleitet, der es schon am Parkeingang noch schlechter ging als mir. Sie kann gar nicht mehr und immernoch befindet sich die kleine Gruppe über einen Kilometer vom Camp entfernt. Daher beschließt Mosesy zusammen mit einigen anderen Männern, Annemarie das letzte Stück den Berg hinaufzutragen. Wir verleihen Stirnlampen und die Jungs basteln aus einem riesigen, gut 20 cm dicken Bambusstamm, einer Wäscheleine und einem großen Tuch eine Trage. Kaum eine halbe Stunde später sind sie wieder zurück, inklusive der Getragenen, die nicht einmal mehr stehen kann. Nach gut einer Stunde, diversen „Powerdrinks“ und viel Ruhe wird es so langsam wieder. Die Köche zaubern auf den vier winzigen Feuerstellen mit einfachen Zutaten ein enorm leckeres Abendessen. Viel essen kann ich nicht, aber Hauptsache wenigstens eine Kleinigkeit findet den Weg in meinen Magen.
Obwohl ich todmüde bin, kann ich lange nicht einschlafen. Ich habe übrigens heute seit der Abfahrt vom Park Office kein einziges Foto gemacht. Es ist einfach zu anstrengend. Die lange Anreise, der krasse Klimawechsel, die nicht richtig auskurierte Grippe und der extrem sonnige Tag bei schwerem Gelände waren einfach ein bisschen viel. Alle Fotos auf dieser Seite wurden daher entweder von anderen gemacht (wenn ich selbst drauf bin), oder aber es sind Fotos vom Rückweg einige Tage später (daher auch der bedeckte Himmel).
2 thoughts on “Warum es von Marojejy so wenig Fotos gibt”