Nachdem ich den ganzen gestrigen Tag effektiv gar nichts gemacht habe außer am Strand zu liegen und ab und zu im Meer herum zu dümpeln, ist es heute Zeit für einen Ausflug. Nach Nosy Tanikley soll es gehen, einer kleinen Trauminsel in der Nähe von Nosy Be. Schon um halb Sieben stehe ich mit gepacktem Fotorucksack am Parkplatz des Hotels, wo die Landcruiser der Jungs stehe. Mit Tanala, Chrissi, Katja, Markus stehe ich nur wenige Minuten auf dem Kies, da sind schon alle im Anmarsch: Mika, Choa, Gris, Dimby, Mamy, Andry, Eric und José verteilen sich auf die Autos und wir rumpeln über den sandigen Weg vom Hotels hinunter in Richtung des Hafen von Ankify. Wenn’s um die morgendliche Portion Reis geht, kommt keiner zu spät! Die anderen der Gruppe wollten lieber im Restaurant frühstücken, das ist ein bisschen schicker und zugegeben, weniger dreckig. Dafür aber auch wesentlich weniger lustig und weniger Madagaskar.
Die Jungs parken die Landcruiser auf der schrägen Betonfläche über dem kleinen Markt. Ich steige aus und folge den anderen die Betonstufen nach unten bis zum Stand von Mama Be, einer alten und sehr dicken Madagassin, die hier seit Jahren sitzt und Essen verkauft. Wenn sie nicht gerade Cola, Bonbon anglais oder gegrillten Fisch verkauft, trinkt Mama Be Rum und raucht Zigaretten. Heimlich kann man bei ihr auch Kat kaufen. Aber da die Hafenaufsicht nur wenige Meter entfernt ist, liegen die grünen Pflanzenstengel mehr schlecht als recht versteckt unter einem Tuch neben der Bierkiste, auf der Mama Be residiert. Dimby, Choa und Mika rutschen ein paar alte Tische mit speckigen Wachtischdecken zu recht. Eine junge Frau, eine der vielen Töchter und Verwandten von Mama Be, wischt mit einem Lappen darüber. Plastikstühle, Bierkisten und schmale, abgenutzte Holzbänkchen werden heran geschleppt.
Für frittierte Bananen ist es heute Morgen noch zu früh, deshalb gibt es geschmacksfreie Reisküchlein, Cola und ein paar Brocken Fleisch-Fett-Brochettes. Die Madagassen löffeln wie immer ihre Reissuppe, ich probiere den dazu gehörigen Gurkensalat – der ist lecker. Choa malaza, unser Bootsfahrer, kommt gut gelaunt vorbei geschlendert. Um seinen Hals baumelt eine Art Ausweis, eine Plastikkarte mit seinem Spitznamen an einem Schlüsselband.
Nach einer guten Stunde fahren Choa, Tanala, Mika und Gris den kurzen Weg zum Hotel zurück, um alle anderen abzuholen. Punkt Acht sind dann auch tatsächlich alle am Hafen von Ankify. Nur Choa malaza ist gerade verschwunden, um irgendwo noch einen Fisch zu essen. Er kommt aber erstaunlich zügig wieder und wir gehen durch irgendeinen Hintereingang – nach kurzer Diskussion ganz ohne Passkontrolle – zum Hafen und besteigen die Cyclone II. Dieses Jahr breitet Choa malaza sogar das Dach über das Boot aus, damit alle im Schatten sitzen können. Oder zumindest die meisten.
Das Meer ist ruhig. Wir brausen keine Dreiviertelstunde über das blau und silbern glitzernde Meer, vorbei an Nosy Komba und Nosy Be, als Choa den Motor abstellt und mit Schwung eine Menge Wasser von hinten ins Boot schwappt. Unter lautem Gequietsche werden Fotorucksäcke aus dem Wasser gerettet.
Unser Lager dieses Jahr liegt ganz hinten am Strand, dort sind wir ungestört. Ich habe wie Tanala und Chrissi eine Easybreath-Tauchmaske gekauft, die das ganze Gesicht bedeckt, und brenne schon darauf, das Ding auszuprobieren. Der Leuchtturmwächter organisiert Flossen, dann kann es losgehen. Mit der Maske, dem eng anliegenden Schnorchelshirt und den rosa Shorts sehe ich aus wie ein schlecht proportionierter Teletubby.
Ich starte mit Ines und Katja in der Nähe der Boote zum Schnorcheln. Schon nach wenigen Minuten bin ich völlig begeistert von der neuen Tauchmaske. Man hat ein tolles Sichtfeld, keinen Schnorchel im Mund und atmet sehr angenehm. Sogar die kleine Unterwasserkamera lässt sich gut bedienen – letztes Jahr habe ich eher blind darauf herum gedrückt. Langsam schnorchele ich in Richtung des großen Korallengartens von Nosy Tanikely.
Heute sind Unmengen bunter Fische unterwegs. Obwohl mein Interesse an Fischen doch eher gering ist, bin ich total begeistert von den vielen kleinen und großen Meeresbewohnern. Das Farbenspiel unter Wasser ist überwältigend. Die Korallen liegen nur ein, zwei Meter unter mir, und um sie herum tobt das Leben. Trompetenfische halb so lang wie ich, aber in der Form nur röhrenartig-dünn, schwimmen vorbei. Komische, kugelrunde Fische verschwinden unter riesigen Korallenhüten. Unheimlich bunt schillernde Papageienfische schwimmen unbeeindruckt an mir vorbei. Riesige, meterbreite Schwärmer kleiner blauer Fische sind überall zwischen den Korallen. Immer wieder schwimme ich in Mitten dieser Fischchen, ohne dass mich auch nur einer berührt. Es ist wunderschön.
Ich entdecke eine kleine Meeresschildkröte und beobachte sie einige Minuten beim Stöbern nach essbaren Algen. Nach einer Weile kommt eine recht große, weitere Meeresschildkröte vorbei geschwommen und ich wechsle zu diesem schönen Meeresbewohner. Meeresschildkröten sind für mich im Wasser unheimlich beruhigend. Langsam schlägt das Tier mit seinen Flossen, sucht zwischen den Korallen herum, und taucht nach einigen Minuten wie in Zeitlupe an die Wasseroberfläche zum Luft holen. Dabei kommt sie unheimlich nah, ein magischer Moment. Die Schildkröte scheint zwar in sich zu ruhen, ist aber ziemlich schnell unterwegs. Ich muss mich ziemlich ranhalten, um ihr hinterher zu kommen. Stören lässt sie sich durch den großen Schatten über sich nicht.
Nach über zwei Stunden sind Chrissi, Réné und die anderen längst wieder am Strand. Nur Ines, Katja und ich sind immer noch im Meer. Eigentlich müsste man um den kompletten Korallengarten zurück an den Strand schwimmen, aber das geht irgendwie nicht mehr. Wir haben die mit der Ebbe einsetzende Strömung total unterschätzt. Schließlich beschließen wir, uns einen Weg durch die Korallen zu suchen, da, wo es nur zwei, drei Meter sind. Das ist eine eher blöde Idee, wie wir schon nach wenigen Minuten feststellen. Im knietiefen Wasser flatschen wir mit den Flossen an den Füßen herum, und versuchen, dabei möglichst keine Koralle zu beschädigen. Dimby sieht uns vom Strand aus und weist uns schließlich den Weg durch die Korallen zurück an den Strand. Ines reißt sich irgendwo das Knie auf, ich mir den linken Knöchel, immerhin tritt aber keiner in einen Seeigel. Die Ebbe ist jetzt so weit, dass die Korallen sogar schon aus dem Wasser schauen. Müde und geschafft, aber mit einem seligen Lächeln, komme ich am Strand an.
Choa malaza hat für uns ein Mittagessen direkt am Strand organisiert. Ein Tisch und zwei Bänke wurden frei geräumt und mit madagassischen Leckereien bedeckt. Es gibt den fantastischen Kokosreis, der für die Region hier ganz typisch ist, und dazu zwei riesige Platten mit Fisch, Crevetten, Baguette und Avocado-Karotten-Ei-Salat. Das Essen ist hervorragend. Zum gemütlichen Nickerchen nach dem Essen hat José unsere grünen Air Beds mit Luft gefüllt, und sie sind echt ganz bequem.
Inzwischen ist eine ganze Menge Italiener auf der Insel eingefallen. Die meisten sind nicht mal zum Schnorcheln hier, sondern nur zum Essen. Eine übergewichtige Ü50-Italienerin, deren viel zu knapper Bikini gerade so ihre Nippel bedeckt, versucht, eine Koralle abzubrechen und wird zum Glück von einem Guide daran gehindert. Ich verstehe nicht ganz, was sie mit der Koralle will – die stirbt eh, und tote Korallenstücke liegen sowieso überall am Strand. Und selbst die darf man gar nicht mitnehmen, wohin also mit dem abgebrochenen Stück Koralle?
Am Nachmittag ist Zeit für einen zweiten Schnorchelgang. Das Wasser ist zurück, und ich wage mich noch einmal bis zur Kante der Bucht hinaus. Wieder vergesse ich in der faszinierenden Unterwasserwelt schnell die Zeit. Ganze vier Meeresschildkröten schnorchele ich hinterher, die letzte sichte ich keine zehn Meter vom Strand entfernt.
Als ich zum Ufer zurückkehre, winkt Tanala schon. Ein Gewitter ist im Anzug. Dunkle Wolken türmen sich am Horizont auf. Alle packen ihre sieben Sachen, ich schnappe mir mein Handtuch und packe alles andere einfach in ein zweites. Im Schnorcheloutfit und mit Flip-Flops schlappe ich zum Boot. Choa malaza verteilt Schwimmwesten, da die anderen Bootsfahrer etwas pikiert waren, als wir heute morgen ohne ankamen. Gris trägt jetzt gleich zwei Schwimmwesten. Ob er damit besser schwimmt, sei mal dahin gestellt. Ein Rucksack findet Platz auf dem Benzinkanister des Boots, aus dem Choas Bootshelfer während der Fahrt mittels eines Schlauches und seinem Mund Benzin ansaugt und in den Tank des Bootes füllt. Choa setzt uns direkt vor dem Hotel im Meer ab.
Wenige Minuten später bricht das Gewitter los. Es regnet, blitzt und donnert, doch der Spuk ist nur von kurzer Dauer und sorgt für ein erfrischend kühles Windchen.
Als die Sonne untergeht, sitze ich mit der Chicken Group und Tanala auf den Fliesen vor meinem Bungalow und genieße die leichte Brise, die das Gewitter gebracht hat. Markus meint plötzlich, er habe eine Schildkröte im Meer gesehen. Ja nee, ist klar. Keiner glaubt ihm. Außerdem hatte ich heute Morgen Delfine bestellt – die soll es hier auch geben – und nicht Schildkröten. „Da! Da ist wieder eine!“, ruft Markus und zeigt mit dem Finger in die Ferne. Ich sehe gar nichts. Dann jedoch taucht ein riesiger Kopf keine 50 Meter vor dem Strand auf. „Jetzt sehe ich es auch!“ Nur ein zwei Sekunden, dann taucht der Kopf wieder unter. Immer mehr Köpfe entdecken wir im Wasser, mal hier, mal da. Und es gibt keinen Zweifel: Es sind ganz klar Meeresschildkröten, die wir da beim Luft holen beobachten. Ausgehend von den Köpfen dürften es schon recht große Exemplare sein.
Zum Abendessen gondeln wir wieder an den Hafen. Diesmal sind auch Varinia, Gunther und Marco mit dabei. Wie immer rutschen wir Tische und Stühle bei Mama Be zusammen. Als ich mich setze, protestiert eine Ente unter dem Tisch laut quakend gegen meine Füße vor ihrer Nase. Ich scheuche das Tierchen davon, und es verzieht sich beleidigt hinter die nächste Hütte. Es gibt winzige Schälchen mit Kokosgummihuhnstückchen und gegrillten Fisch. Ich bestelle 40 Brochettes, und bediene mich bei den Unmengen von Reisresten der anderen. Hier bekommen auch Vazaha die normale madagassische Reisportion – ein riesiger, hoch gehäufter Teller – und keiner schafft mehr als die Hälfte. Aber sowohl ich als auch die Madagassen sind dankbare Abnehmer, und am Ende des Abendessen sind alle Teller blankgeputzt.
Zurück im Hotel wandern Chicken Group und Madagassen wie selbstverständlich zur Terrasse vor Tanalas und meinem Bungalow. Léon hat heute Geburtstag, und das will noch ausgiebig begossen und gefeiert werden. Wir haben im Hafen weißen Rum gekauft, der jetzt mit frisch gepressten Zitronen in einer Eau-Vive-Flasche gemischt wird. Mika schüttelt und schüttelt. Dann stellt er die Flasche ab, schüttet Honig hinein und schüttelt wieder. Das Prozedere gestaltet sich langwierig und mir erschließt sich nicht so ganz, warum genau der Rum zig Mal von einem ins nächste Gefäß geschüttet wird. Irgendwann hat Mika seine Barkeeper-Verkünstelung aber abgeschlossen. Reihum wird probiert, ob der Rum auch schmeckt. Ich probiere auch. Um die Mischsache abzukürzen, beschließe ich, dass der Rum jetzt perfekt schmeckt und schenke großzügig aus. Es hat ein bisschen was von Honigzitrone. Mit dem Rum ist ein Löffel zu mir gewandert, den ich jetzt behalte, um Honig in den Cuvée noire zu schütten, den ich ebenfalls schon in einem kleinen Blechbecher vor mir auf dem Boden stehen habe.
Nach knapp drei Litern Rum ist die Stimmung ausgelassen. Alle liegen kreuz und quer über der Terasse. Dimby, der etwas später dazu gestoßen ist, stimmt das erste Lied an. Alle stimmen erst zögerlich, dann zunehmend lauter ein. José begleitet unseren Gesang auf der Gitarre. Dank einer madagassischen App mit Liedtexten können sogar die Vazaha mitsingen. Wir singen sicherlich nicht besonders schön, aber dafür umso lauter.
Schließlich wird Musik aus dem Handy angestellt, und die kleine Terrasse wird zum Tanzboden umfunktioniert. Eric betreibt eher eine Art Schweiß treibendes Zumba-Training, das Ines, Chrissi und ich fleißig nachtanzen, und Léon tanzt längst auch, obwohl er eigentlich Zahnschmerzen hatte. Tanala schwingt sich mit einem Besen hinter Mika, Markus, José, Gris, Mamy, Katja und Choa im Kreis. Es wird ein sehr langer, lustiger Abend. Nach unendlich vielen Plantations, auf denen wir gefühlt alles gepflanzt haben, was die Insel hergibt, und ebenso vielen gemeinschaftlich aus voller Kehle gesungenen „Namana ireny Tena namanaaaaa!“ verabschiede ich mich leicht torkelnd ins Bett. Es war ein fantastischer Tag unter Freunden.