Nordosten 2022

Passierschein A38

Zwei Jahre. Es ist unglaubliche zwei Jahre her, dass eine Pandemie mich und neun Mitreisende zwang, eine fantastische Madagaskarreise abzubrechen. Zwei Jahre, in denen sehr viel und doch erstaunlich wenig passiert ist. Und jetzt stehe ich wieder hier, mit fast exakt der gleichen Gruppe von Freunden, und warte darauf, dass der Flieger seine Türen öffnet. „Wir werden die letzten sein, die gehen, und die ersten, die wiederkommen!“ habe ich vor zwei Jahren gesagt. Und genau so ist es.

Also, nicht ganz genauso. Fast. Seit November schon fliegen Madagassen und Franzosen mit regulären Flügen auf die Insel zurück. Touristen waren, wenn man ehrlich ist, bisher nicht in nennenswerten Zahlen dabei. Und auch dieser Flug ist eher mit Einheimischen gefüllt, dazwischen nur diverse Fremdenlegionäre und Auswanderer, zwei, drei französische Biologinnen – und wir. Dass so wenige verrückt genug sind, im März 2022 in einen Flieger nach Madagaskar zu steigen, könnte allerdings an den erschwerten Einreisebedingungen liegen. Die Infektionszahlen in Deutschland sind in den letzten 14 Tagen rasant gestiegen. 14 Tage, die ich durchgehend auf der Arbeit mit FFP2-Maske verbracht habe. Und sehr, sehr viel Desinfektionsmittel. Desinfektionsmittel auf der Arbeit, im Auto, nach dem Einkaufen, überall. Denn: Wer aktuell nach Madagaskar will, der braucht zwei negative PCR-Tests. Einen maximal 72 h vor dem Langstreckenflug. Einen danach. Der davor hat bereits reichlich Nerven gekostet. Angemeldet war ich für eine Station zwei Dörfer weiter. Sonntagmittag, Anmeldung vier Wochen im Voraus. Zwei Wochen vor Test fiel der Teststation ein, dass sie sonntags gar nicht offen hat. Aber ich könnte gerne zur Station des gleichen Anbieters im Nachbardorf gehen. „Gibt das sicher auch keine Probleme?“ „Neiiiin, neeiiiin, ich melde Sie da vorher an.“ Was dann passierte: Natürlich wusste keiner von nix vor Ort. Test klappte trotzdem. Das Ergebnis kam Montagvormittag (Tipp an dieser Stelle: Solltest du jemals sowas machen müssen, nimm den teuersten und dafür schnellsten Test, spart unglaublich Nerven). Montagabend folgte der vorverlegte Flug. Danke an dieser Stelle an Air France für rund zwölfunddreißig Flugänderungen einschließlich diverser Telefonate, nachdem der Langstreckenflug wegen eines internen Systemfehlers bei Air France mal kurz „ganz weggebucht“ war. Dank Air France gab es dann auch noch eine Übernachtung im Hotel am Flughafen in Paris. IM HOTEL! Aaaaah! Zwei Wochen Isolation und dann Übernachtung in so einer Seuchenhochburg und Fahrt mit dem proppevollen, aber maskenlosen CDGval mit Option auf „Latenzzeit reicht gerade so, dass der zweite Test in Antananarivo positiv werden könnte“?! Naja. Blieb mir nichts anderes übrig.

Das wirklich kleine Hotelzimmer in Paris

Den anderen aus meiner Reisegruppe ging es übrigens nicht viel anders mit den Anlaufproblemen. Lars hatte Spaß mit dem indischen Außendienstmitarbeiter von Air France, der weder Lust auf noch Ahnung von einer Umbuchung einzelner Flüge hatte. Nachdem Lars nach Stunden denn mal durch die Warteschleife kam. Marko ist mit Autopanne auf dem Weg zum Flughafen steckengeblieben. Martins Zubringerflug nach Paris startete mit einer Stunde Verspätung. Außerdem hätte er fast seinen Reisepass vergessen. Und Lars‘ und Juttas gebuchtes Shuttle vom Hotel zum Flughafen kam erst gar nicht. Durch Glück konnten sie aber ins vorbeifahrende Andrea-Shuttle springen. Markus hat immerhin nur seine Jacke zu Hause liegen lassen. Der Langstreckenflug gestaltete sich mit elf Stunden FFP2-Maske tragen auch nur mittel vergnüglich.

Jedenfalls. Jetzt bin ich hier. Jetzt sind wir alle hier. Mit Aussicht auf PCR-Test Numero Zwei. Wer durchfällt, kommt 14 Tage in den Knast in Quarantäne. In ein vom madagassischen Staat nach Gammeligkeit nach höchster Korruption Kompetenz ausgesuchtes fensterloses Hotel. Abgeholt von Marsmännchen in Vollkörperschutzmontur. Das macht ein bisschen Sorge. Ach so, und zwei Tage Knast Quarantäne sind auch bei negativem Test auf jeden Fall drin. Diese immerhin in einem von uns ausgesuchtem Hotel von einer speziell dafür angelegten Liste. Dimby hat letzte Woche schon die Aussicht vom Balkon gecheckt.

Mehr Papierkram braucht das Land

Erstmal muss aber die Tür des Fliegers aufgehen. Und schon da gibt es dann einiges Unerwartetes. Antananarivo hat ja vor ein paar Jahren einen neuen Flughafen bekommen. Blöd, wenn man dann zwei Jahre die internationalen Flüge verbietet, denn dann kann man den gar nicht einweihen. Also – der Flughafen wurde de facto 2021 eingeweiht. Aber da durfte halt niemand fliegen. Jedenfalls ist der neue Flughafen inzwischen doch endlich in Benutzung. Der Flieger ist also eben nicht auf das gewohnte alte Gebäude mit den dreieckigen Dächern zugesteuert, sondern daran vorbeigerollt zu einem hell erleuchteten Riesengebäude mit halbrundem, eher flachen grünen Dach. Und jetzt ist endlich die Tür auf und Menschen drängeln hinaus ins – ups, nicht ins Freie? Das ist neu. Ich laufe in eine klimatisierte Gangway mit jeder Menge Stahl hinein. Dahinter führt ein Gang auf nagelneuem rotem Teppich weiter in Richtung des Terminals. An der Wand hängen großformatige Drucke von Baobabs und Tsingys. Hui.

Der Gang endet in einer großen, ebenso nagelneuen Halle mit einer schier endlosen Zickzack-Warteschlange hinter einem kleinen Schalter. Tanala und ich flitzen direkt los zu ebendiesem kleinen Schalter, an dem man 35 € für ein Visum loswird. Mit der Quittung geht es weiter zum Visaschalter. Ein Madagasse in gelber Warnweste weist uns in die richtige Warteschlange ein. Visaschalter gibt es, als ich in der Halle ankomme, genau zehn. Davon sind alle zehn offen. Wow, auch das ist neu auf Madagaskar. Ich muss etwa vier Leute abwarten, dann wird Schalter 9 frei. Ich tapere also zu Schalter 9. Dort winkt der Angestellte schon wild: „Nee, hierhin nicht, gehen Sie bitte zu Schalter 10!“. Auf Madagassisch – eher blöd, wenn man das jetzt hier nicht spricht. Schalter 9 schließt nämlich gerade. Also wechsle ich zu Schalter 10.

Und da kommt dann doch das echte Madagaskar zum Vorschein. Ich schiebe meinen Pass, die Quittung und einen Haufen anderen Papierkram durch den Schlitz unter der Glasscheibe. Da liegt mein Pass dann. Der untersetzte Beamte auf der anderen Seite der Glasscheibe nimmt den Pass in die Hand, verteilt Einreise- und Gesundheits-Zettel auf bereits vorhandene Stapel und legt meinen Pass wieder weg. Im gleichen Moment klopft von vorne jemand hektisch gegen den Visa-Glas-Kasten. Ein Stapel Pässe wandert über die Scheibe. Aus mir nicht erklärlichen Gründen werden alle diese Pässe vor meinem begutachtet – sehr ausführlich und langsam – und gestempelt. Weitere Hände klopfen, weitere Pässe wandern über die Scheibe. Insgesamt 21 Pässe lang stehe ich also geduldig vor dem Visumsschalter, während vorgedrängelte Pässe abgestempelt werden. Hinter mir werden Leute unruhig. Ich zucke mit den Schultern. Als ich nach einer geschlagenen halben Stunde gerade vor dem Schalter drohe einzunicken, nimmt der Beamte tatsächlich meinen Reisepass in die Hand. Er schaut kurz auf mein Foto, dann schaut er hoch und blafft mich auf Französisch an „Wo ist denn Ihre Hotelreservierung? Machen Sie mal schneller!“ Äh ja. Ich stehe hier schon 30 Minuten und an mir liegt das lahme Tempo nicht. Ich hole die Bescheinigung über die Hotelreservierung heraus und reiche sie ebenfalls durch den Glasschlitz. Es folgt die Bescheinigung über den erfolgten PCR-Test und die von mir unterschriebene Quarantäne-Einverständnis-Erklärung. Und dann habe ich endlich ein Visum. Inzwischen haben von zehn Visaschaltern acht wieder geschlossen, obwohl die gesamte Wartehalle noch mit Menschen voll ist. Schalter 1 bis 6 sowie 8 und 10 haben wohl bereits Feierabend. Offen sind nur noch 7 und 9.

Die neue Gepäckhalle

Mit meinem Visum zuckele ich weiter zu einem anderen Herrn in Warnweste, der irgendwas kontrollieren will, bevor ich einen Raum weiter aufrücke. Die Warnweste möchte – wer hätte das gedacht – gerne nochmal die Bescheinigung über die Hotelreservierung sehen. Die er dann auf seiner Liste erlaubter Hotels nachguckt. Und einen Strich dahinter macht. Den Reisepass mit dem gültigen Visum möchte er auch nochmal sehen. Ist ja nicht so, dass sein Kollege zwei Meter neben ihm genau das gerade ausgestellt hätte.

Immerhin bin ich nun schon in einer großen, langen Halle mit Kofferbändern. Mehreren. Und an einem steht „Paris CDG“ dran. Es sieht nagelneu aus und fährt eifrig im Kreis, einige Koffer liegen schon drauf. Chrissis Koffer ist sofort da, Martins auch. Chrissi und Martin stehen aber ungefähr noch am allerletzten Ende der Visumshalle. Ich warte und warte… das Rolltor, aus dem die Koffer aufs Band fallen, schließt sich schon. Glücklicherweise öffnet es sich auch wieder. Menschenmassen wandern an mir vorbei. Ich warte weiter. Als allerletztes kommen meine beiden Taschen. Endlich. Tanala schiebt den Kuli mit den beiden Taschen, dem Rucksack und diversem Kleinkram Richtung Ausgang. Er will gerade durch den grünen – zollfreien – Ausgang gehen, da hält ihn eine weitere Warnweste davon ab und deutet auf den roten Ausgang. Aber wir haben doch gar nix zu verzollen? Anscheinend möchte da jemand die neue Röntgenanlage testen. Alles Gepäck soll da jetzt nochmal durch. Lars schiebt sein Gepäck in einem günstigen Moment einfach an der Warnweste vorbei. Ich schnappe mir den Kuli von Tanala und gehe freundlich lächelnd samt Gepäck an der Warnweste vorbei, die zwar wild gestikuliert, aber offenbar nix sonst machen kann.

Und schon geht es weiter in dem Haus, das Verrückte macht. Passierschein A38 ist nichts dagegen. Ich reihe mich in eine weitere, lange Schlange ein. Es ist immerhin schon mal eine Halle, an der es große Türen nach draußen gibt. Rechts befinden sich zwei breite Schalter, die aussehen, als hätte man die weiß getünchte Garderobe eines Theaters versehentlich in den Flughafen verlegt. Links in der Halle befinden sich zehn in einem L aufgebaute Tische, hintern denen gut verpackt in weiße Ganzkörperanzüge Leute sitzen und Reisende tupfern. Das Maskentragen ist allerdings nur semi-akkurat. Hier und da hängt eine Nase raus und Handschuhe werden generell nicht gewechselt, egal wieviel man schon angefasst hat.

Ich schiebe meinen Kuli zur weißen Theater-Garderobe. Dort zahle ich 25 € für den PCR-Test. Es gibt sogar zwei Quittungen, eine zum Mitnehmen und eine zum Abgeben. Und eine Nummer – 334 – für die Warteschlange am PCR-Test selbst. Eine sonore Stimme sagt fortlaufend und sehr laut über Lautsprecher die Nummern und den dazugehörigen Tisch an. Deux cent quatre vingt trois – table un. Deux cent quatre ving quatre – table sept. Deux cent quatre vingt cinq – table neuf. Und so weiter. Ich reihe mich also erneut ein…

Endlich wird meine Nummer ausgerufen und als eine der letzten setze ich mich auf einen Holzstuhl vor einen Testtisch. Eine freundliche Madagassin fragt nach meinem Impfpass, neben ihr sitzen noch zwei weitere weiß vermummte Gestalten. Mit dem QR-Code der Corona-App kann sie nicht so viel anfangen. Also packe ich den originalen Impfpass aus. Dann fragt sie nach, ob das „ganz echt“ meine Covid-Impfung sei in dem Pass. Denn da sind vier drin! Ja, vier Mal geimpft. „Aber es geht doch nur dreimal?“, fragt sie erstaunt. „In Europa geht auch vier Mal.“, antworte ich geduldig. Danach gibt es zum letzten Mal an diesem Abend weiteren Papierkrieg für Passierschein A38. Die Quittung für den bezahlten PCR-Test muss vorgelegt werden, außerdem nochmal der Reisepass mit dem Visum und schon wieder die Hotelreservierung. Die ist offenbar extra super wichtig. Weitere Listen werden abgehakt. Auf einen Tupfer wird eine Nummer geschrieben, die gleiche Nummer auf einer weiteren Liste hinter meinen Namen geklebt. Ich beäuge das Ganze recht kritisch. Nicht, dass die hier noch irgendwas verwechseln und ich hinterher das positive PCR-Ergebnis von Britta Schneider aus Buxtehude kriege. Aber sowohl der sterile Tupfer als auch der Verschluss der Probe laufen recht professionell ab. Endlich darf ich gehen. Alle anderen haben Passierschein A38 bereits erfolgreich gelöst.

Gemeinsam fahren wir die Taschen und Koffer zum Ausgang. Dort steht bereits ein mir unbekannter Mensch mit einem Schild „IC Hotel“, offenbar sind wir die letzten, quasi der übrig gebliebene Rest. Auch das kenne ich von Madagaskar nicht: Keine guten Freunde, die einen herzlich empfangen. Der Vorplatz des Flughafens – auch dieser nagelneu mit weiß glänzenden Markierungen und frisch gepflanzten Palmen – ist leer gefegt. Die Dunkelheit wird von Scheinwerfern erleuchtet. Der Mann mit dem Schild führt uns zu einem sehr kleinen Bus. Wir fahren dann wohl zwei Mal für neun Leute plus Gepäck. Ich darf in die erste Runde. Das Gepäck wird lose aufs Dach gelegt – hoffen wir mal, dass das hält.

Los geht es. Die Straße ist die gleiche, die auch vom alten Flughafen wegführt. Im Dunkeln erkennt man aber kaum etwas. Inzwischen ist es nach zwei Uhr in der Nacht, vor fast drei Stunden sind wir angekommen. Von der Hauptstraße biegt der kleine Bus ab in einen nicht asphaltierten Lateritweg. Der ist reichlich rumpelig und scheint mir etwas eng für die Größe des Busses. Links und rechts des Wegs sehe ich Bretterbuden im Schein der Scheinwerfer, aber alle sind verwaist. Dann biegt der Bus nochmal ab und rumpelt einen unwegsamen, steilen und noch engeren Lateritweg herunter. Wir landen in einer gepflasterten Einfahrt mir großen Ravenalas dahinter. Es ist stockfinster. Ich folge dem Weg vorbei an mehreren Balkonen bis zu einer steinernen Treppe vor einer Holztür. Eine Madagassin mit hochgesteckten schwarzen Haaren, schwarzer Maske und freundlichen Augen steht hinter der Rezeption. „Stromausfall“, sagt sie schüchtern lächelnd, und zündet mehrere Kerzen an. Das Wlan-Passwort gibt sie uns auf kleinen Zetteln handgeschrieben ebenfalls schon mal. Der Strom geht ja hoffentlich irgendwann wieder an, wenn Jirama dazu Lust hat.

Die nette Madagassin weist uns nochmal ausdrücklich darauf hin, dass bis zum Ergebnis des PCR-Tests keiner sein Zimmer verlassen darf. Ja, geht klar. Ein kleines THB in der Glasflasche ist noch verfügbar, dann sind die Biervorräte des Hotels schon erschöpft. Beaufort Lager gibt es sonst noch. Die Kofferträger führen jeden zu seinem Quarantänezimmer. Ich habe mit Tanala, der mit dem zweiten Bus nachkommt, ein schönes Zimmer im ersten Stock mit einem Balkon. Nummer 7, das sehe ich als gutes Omen. Der Strom geht an, als ich hineingehen will. Sogar einen Minikühlschrank gibt es. Den Balkon möchte ich aber auch mal anschauen, auch wenn es nachts im Dunkeln nicht viel zu sehen geben wird. Den Schließmechanismus am Boden habe ich leider bereits beim ersten vorsichtigen Ziehen komplett in der Hand. Ich wollte ja die Balkontür heute Nacht eh offen lassen. Grillen zirpen, ein Gecko beschwert sich über den Besuch. Dann sitze ich jetzt also in Quarantäne.

Veröffentlicht von Alex

Alex ist 35 Jahre alt, wohnt in der Nähe von Mainz und ist im echten Leben fernab des Urlaubs Tierarzt mit Faible für Reptilien. Sie fotografiert und reist gerne - so entstand auch dieser Blog. Nebenbei hält sie selbst Chamäleons zu Hause, schreibt an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, betreibt ein kostenloses OnlineMagazin und erstellt Malbücher für madagassische Kinder.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.