Wieder bin ich früh wach. Die Sache mit der Luftmatratze… gestern hatte Ndrema irgendwoher noch eine Schaumstoffmatratze gezaubert, weil die Luftmatratze erst wieder repariert werden muss. Mit einem niedlichen rot-grünen Bezug mit „Love“-Schriftzügen. Das hielt ich gestern Abend noch für voll die gute Idee. Heute Nacht hat sich dann herausgestellt, dass 10 cm Madafoam innerhalb weniger Minuten auf Null zusammengedrückt werden, wenn man drauf liegt. Tanala und ich haben also effektiv auf Beton geschlafen.
Mit einem etwas malträtiertem Rücken schlurfe ich zum Frühstück. Der Himmel ist heute strahlend blau, kein Wölkchen trübt das Wetter. Die Sonne scheint durch die Bäume, und Ndrema freut sich grinsend mit meiner Gruppe, dass wir heute nicht in die Schlucht müssen, sondern einen „really relaxed walk around the lake“ laufen. Wieder sind die Coquerel-Sifakas am Campground, und zwei jüngere Sifakas beobachten uns recht lange, bevor sie ihrer Familie wieder in den Wald folgen.
Deutlich später als gestern starten wir vom Campground in Richtung See. Rudi und Silke sind bereits mit ihrer Gruppe unterwegs, und auch Tanala und Dimby sind schon länger außer Sichtweite. Markus, Ines, Chrissi, Katja und ich haben uns noch um Getränke gekümmert. Mit anderthalb Litern Wasser und einem halben Liter Cola bewaffnet wiegt mein Fotorucksack mal wieder viel zu viel, aber damit bin ich nicht allein. Nur Chrissi trägt als einzige Fotoausrüstung lediglich ein Iphone.
Zügig laufen wir die Straße hinunter. Die Obststände des Dorfs sind noch verlassen, kaum jemand ist zu sehen. Die Sonne brennt schon jetzt ganz ordentlich im Gesicht. Hier und da hangelt sich ein kleines Furcifer oustaleti über die Äste. Plötzlich hören wir ein lautes, hohes Schreien – ein Seeadler! Ndrema flitzt wie von der Tarantel gestochen ins Gebüsch, und kraucht eine ganze Weile zwischen den Bäumen umher. Leider findet sich kein Seeadler in Sichtweite. Also setzen wir unsere Wanderung fort und folgen einem roten Pfad am Seeufer in Richtung Wald. An einem kleinen Holzsteg, der über einen ausgetrockneten Bach führt, get es in den Wald. Ndrema will mit uns nach Brookesia decaryi suchen, kleinen Erdchamäleons, die aber sehr schwierig zu finden sind. Zwölf Augen sehen bekanntlich mehr als zwei. Aber leider werden wir auch mit zwölf Augen nicht fündig. Zwar starren wir eine gute Stunde überall ins Gebüsch – was zu sehr lustigen Bildern führt -, aber ein Brookesia decaryi finden wir nicht.
Wir kehren zurück auf den Rundweg um den Ravelobe. Wir sind kaum in den Trockenwald mit seinen hohen Bäumen eingetaucht, als Katja am Waldrand das erste Furcifer rhinoceratus-Männchen des Tages findet. Es ist erstaunlich farbenfroh mit viel grün und einem hellen Türkisblau. Sonst kennt man die Männchen von Fotos nur langweilig grau. Aber in der echten Natur sehen viele Chamäleons schöner aus! Langsam, sehr langsam, schleichen wir um den See.
Als es Mittag wird, haben wir nicht einmal die Hälfte des Weges hinter uns. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Weg um den Ravelobe heute gar nicht mehr endet. Den anderen geht es ähnlich. Die Wanderung gestern steckt doch allen noch in den Gliedern, auch wenn es keiner so richtig zugeben will. Ndrema hat das heute morgen schon gemerkt, und genau deswegen läuft er auch so langsam.
Irgendwann fragt Ines neugierig: „When will we reach the Baobabs? How far is it, five minutes?“ „No, no!“, lacht Ndrema, „It’s one hour from here!“ Oh Gott. Etwas ungläubig starre ich ihn an, und halte diese Zeitangabe erstmal für einen schlechten Scherz. Ist aber keiner. Inzwischen ist mein Wasser leer, und ich habe trotzdem noch Durst. Wir entschließen uns zu einer kleinen Pause auf zwei quer liegenden Baumstämmen. Ein paar Eisvögel fliegen immer wieder zu ein paar Ästen nahe über der Wasseroberfläche. Adler sehe und höre ich weit und breit keine. Dafür kommt noch ein Paradiesschnäpper vorbei, und lässt sich für ein Foto nur ein paar Meter von unserem Pausenplatz nieder.
Ich folge der Gruppe einen Hügel nach oben und dann wieder nach unten, etwas entfernt vom Ufer. Ndrema hat in einem Baumstumpf noch eine Madagaskarboa entdeckt. Sie ist klein, hübsch und freundlich. Etwas weiter entdeckt Markus einen jungen Phelsuma kochi an einem Baumstamm, und Katja findet eine skurill getarnte grüne Motte.
So langsam wird es mir ein bisschen viel. Chrissi läuft irgendwann etwas zügiger vor. Ich hole sie gegenüber einer kleinen Insel ein, von der lautes Vogelgezwitscher herüber tönt. Von den anderen taucht auch nach minutenlangem Warten niemand auf, also laufe ich doch nochmal den Weg zurück. Kein Wunder, Ndrema hat zwei weitere Furcifer rhinoceratus gefunden und damit ein weiteres Fotoshooting nach sich gezogen. Ich ringe mich doch noch zu mehr Fotos durch. Als ich gerade die letzten Schüsse tätige, quakt es ein paar Meter weiter am Seeufer sehr laut. Dann ertönt ein lautes Platschen, begleitet von schreiend-quietschendem Vogelgeschrei. Da hat wohl gerade eines der Krokodile im See sich einen Mittagssnack gegönnt. Zu sehen gibt es nichts, das Ufer ist einfach viel zu dicht. Selbst ein drei Meter großes Krokodil könnte hier problemlos verschwinden.
Als endlich die beiden riesigen Baobabs auf einer Lichtung auftauchen, bin ich sehr erleichtert. Der Weg war ja fast anstrengender als der zur Schlucht, und dabei ist er nur halb so lang. Ich lasse mich direkt auf den kleinen Baumstamm fallen, der unterhalb der beiden Letzten ihrer Art im Schatten steht. Der dritte, 2013 bei einem Zyklon umgefallene Baobab ist längst in kleinen Teilen abtranportiert. Nichts deutet mehr darauf hin, dass hier ein solcher Baumriese gestanden hat. Irgendwo im Gebüsch krabbelt wohl noch ein Chamäleonbaby herum, aber dafür fehlt mir gerade der Nerv. Ndrema „klaut“ ungefragt meinen Rucksack – die Erklärung lautet „You know, it’s so warm on the street!“ Aahaaaa! – und schleppt ihn bis zurück zum Campground. Wir überqueren die kleine Maschendraht-Brücke, die auch schonmal bessere Tage gesehen hat und balancieren über die kaputten Holzbohlen zwischen den Reisfeldern. Als wir die Straße erreichen, findet Mika tatsächlich noch ein weiteres Furcifer rhinoceratus-Männchen. Gut, dass ich heute nicht um Bier gewettet habe…
Auf dem Campground angekommen sind alle ziemlich fertig. Total Matsche. Literweise fließt kalte Cola. Ndrema bekommt von Ines, Chrissi und mir den Fieldguide samt Trinkgeldern überreicht. Ines und Chrissi haben zusammengelegt, um den Fieldguide zu finanzieren, ich habe ihn aktualisiert. Das Trinkgeld ist nicht so wichtig, denn über den Fieldguide freut Ndrema sich viel mehr. Damit kann er sich fortbilden und jüngere Guides anlernen. „Es ist das beste Geschenk, das ich je bekommen habe.“, sagt er leise. Und fügt dann hinzu: „Ah, nicht ganz. Mein wertvollster Besitz ist ein Schweizer Fernglas, das habe ich auch mal geschenkt bekommen.“ Schnell verstaut er den Fieldguide in seinem kleinen Rucksack.
Später bringe ich Ernest, dem Mann, der über die Angonokas in der Aufzuchtstation von Ampijoroa wacht, noch ein Poster seiner Lieblingsschildkröte. Er freut sich, und auch wenn er nicht so viel sagt, ist sein riesiges Grinsen genug des Dankes. Inzwischen ist das Office der Schildkrötenstation übrigens auch eingezäunt, damit man nicht auch nur in die Nähe der seltenen Tiere gelangt.
Das Mittagessen fällt wieder opulent aus. Eric und Andry tischen frittierte Auberginen, Karotten, Zucchini und Kartoffeln auf. Es folgen ein ganzer Eimer Nudelsalat, Thunfisch mit Brokkoli und Sardinen auf Tomaten. Nach dem Essen wischt Ndrema über den Tisch. Ich habe ihn gebeten, die Kinder des Nachbardorfes zusammen zu rufen. Wir wollen ein paar Malbücher verteilen, und Markus, Varinia und Gunther haben einiges an Klamotten zum Verteilen mitgebracht. Ines hat noch vieles an Spielsachen, das noch Abnehmer sucht. Und davon gibt es hier viele.
Wir richten den Tisch mit Getränken und Keksen her. Zögerlich tauchen die ersten Kinder aus dem Dorf auf. Alle sind barfuß. Die meisten haben dreckige T-Shirts und kaputte Hosen an, und viele tragen sogar nur eine kurze Hose, sonst nichts. Die Armut ist hier greifbarer als anderswo. Fragende Gesichter… Dimby und ich verteilen unsere Mitbringsel auf den Tischen, für jeden Platz 12 Buntstifte und ein Malbuch. Als die Kinder begreifen, dass wir sie zum Malen einladen, werden es sprunghaft mehr. Wie ein Lauffeuer scheint im Dorf die Nachricht umzugehen, dass es heute kostenlosen Spaß für Kinder auf dem Campground gibt.
Aus den zehn Kindern werden innerhalb einer halben Stunde erst zwanzig, dann dreißig, dann vierzig. Die, die keinen Platz an unserem Tisch gefunden haben, stellen sich in einer langen Reihe an, um ebenfalls noch ein Malbuch und Stifte zu erhalten. Keiner drängelt, keiner schubst. Außer Ndrema helfen auch Corinne und Olga, unsere beiden anderen loca guides, die Kinder auf Stühle zu sortieren und Malbücher zu erklären. Olga nimmt die Sache gleich energisch in die Hand und liest mit einer riesigen Gruppe Kinder alle Seiten des Malbuches nach und nach durch. Sie fragt, welche Tiere daraus die Kinder schon gesehen haben und was man mit Schildkröten tun muss. „Sie schützen!“, brüllen die Kinder im Chor. Und so geht es Seite für Seite weiter. Dann erst wird ausgemalt. Die Kinder teilen die kleinen Blechbecher, und ohne Zank wird alles im Kreis gereicht.
Tanala, Corinne, Dimby und ich schenken Getränke aus und verteilen Erdnüsse. Markus findet noch eine Packung Bananenchips und verteilt hier ein T-Shirt, da eine kurze Hose. Für viele der Kinder ist es das erste Mal, dass sie Limo trinken. Ein kleines Mädchen hält ganz ehrfürchtig einen kleinen Blechbecher mit Cola in der Hand und nippt nur in winzigen Schlucken davon, um das Getränk länger auszukosten. Wohin man schaut, sieht man strahlende Kinderaugen und unbändige Freude über Getränke, Süßigkeiten und ein paar Malbücher. Es ist unglaublich schön, so vielen dankbaren Kindern eine so große Freude zu machen. Gleichzeitig ist es unsagbar traurig, dass es für die Kinder hier in keinster Weise selbstverständlich ist, Buntstifte zu besitzen oder gar einen Keks zu essen. Gut ein Drittel der Kinder geht nicht einmal zur Schule. Die ganze Situation macht sehr nachdenklich, und der ein oder andere (ich schließ mich da mal ein) ist zu Tränen gerührt.
Rund 75 Malbücher und Stiftpäckchen verteilen wir. Als es an T-Shirts und andere Kleidung geht, merkt man allerdings, wie arm die Menschen wirklich sind. Bevor es Streit gibt, nehmen Olga und Ndrema den ganzen Sack voller Klamotten in allen Größen mit, um die Sachen direkt im Dorf an die Eltern zu verteilen. Derweil wird stundenlang unter dem Dach der Gemeinschaftshütte gemalt. Drumherum rennen Kinder in Dutzenden herum, und haben einen riesigen Spaß, als Chrissi, Réné und Markus ihre Handys auspacken, um Selfies zu machen. Jedes Foto wird ausgiebig bewundert und laut quietschend posieren Mädels und Jungs für noch mehr Schnappschüsse. Réné und Julia bewundern ein paar kleine Jungs, die einen selbst gebauten Spielzeuglaster mitgebracht haben. Er besteht aus billigem Holz, das geschickt zu einem kleinen Auto zusammengeleimt wurde. Plastikdeckel von PET-Flaschen dienen als Räder. An einer dünnen Schnur an den Vorderrädern kann man das kleine Gefährt hinter sich her ziehen. Réné findet noch eine Tüte Erdnüsse in seinem Zelt und legt sie unter scharfer Beobachtung einer ganzen Kinderschar auf die Ladefläche des Spielzeuglasters. Laut jubelnd ziehen die Kinder mit ihrer Beute davon.
Die vereinzelten Vazaha zwischen dem Gewühl an Kindern auf dem Campground sind nicht die einzigen, die das Spektakel sehr bewegt. Auch Ndrema wird immer ruhiger, obwohl er sonst immer geschäftig umher flitzt. Schließlich kommt er zu mir und will sich bedanken. „In 18 Jahren, die ich jetzt hier Guide bin, habe ich das noch nie erlebt. Noch nie haben Weiße so etwas für die Kinder im Dorf gemacht.“, sagt er.
Zusammen mit den Kindern machen wir noch ein paar Erinnerungsfotos. Als es dunkel wird, scheuchen ein paar Eltern die Kinder wieder zurück ins Dorf. Es war ein toller Tag, der mich sehr berührt hat. Es ist so einfach, Menschen eine Freude zu machen. Wir sollten das alle dringend öfter tun. Und vielleicht sollten wir alle ab und zu mal intensiv darüber nachdenken, wie gut es uns eigentlich geht.
Liebe Alex, das hast Du wirklich toll wiedergegeben und beim Lesen fühlte ich mich an diesen Tag zurückversetzt. Auch ich fand diese Momente mit den Kindern sehr ergreifend und das ist es auch, warum ich jetzt seit zwei Jahren schon mein Schulprojekt auf Madagaskar habe. Unterstützung zu geben und die strahlenden Kinderaugen zu sehen – das ist einfach immer wieder unbezahlbar. Und wie Du so schön schreibst, jeder kann einen kleinen Beitrag dazu leisten.